Sommernachtszauber (German Edition)
Augen und spürte seine Anwesenheit dennoch. Dann sah sie wieder zu ihm auf: Er beugte sich nach unten und ihr Gesicht war dem seinen ganz nahe. Sie konnte nicht anders, als die Linie seines Kinns zu bewundern. Den Schwung seiner Augenbrauen. Die langen Wimpern über den unglaublich blauen Augen. Ben van Behrens war gut aussehend, auf eine starke und lebendige Weise. Aber Johannes hier sah einfach so
vollkommen
aus. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der sie das denken ließ. Aber diese Vollkommenheit speiste sich aus einem Geheimnis, einem Kern, den sie nicht verstand. Seine Ausstrahlung und alles andere, was sie an ihm so unwillkürlich faszinierte, kamen tief aus seinem Inneren. Wer war er?
Er ließ sie nicht aus den Augen, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Es ist alles schon so verdammt lange her«, sagte er dann leise. Sein Blick schien unter einem inneren Feuer zu schmelzen.
»Wann, Johannes, hast du zum letzten Mal mit jemandem gesprochen?«, fragte sie ihn mit zitternder Stimme.
Er zögerte. »Willst du das wirklich wissen?«
Sie nickte stumm.
Er sah sie ruhig an. Sein Mund näherte sich ihrem Ohr und die feinen Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Ihr Atem beschleunigte sich. Wollte sie das denn? Das Herz schlug ihr bis zum Hals und das Blut raste durch ihre Adern. Sie fühlte sich mit all ihren Gefühlen in den Schnellkochtopf geworfen. Alles hier stand unter extremem Druck, lauter neue Eindrücke, mit denen sie nicht klarkam. Sie hörte Johannes sachte Luft holen und legte instinktiv ihre Hand auf seine Brust, um ihn aufzuhalten. Ihre Finger griffen in die Luft und konnten doch nicht weiter dringen als bis an sein Wams. Da war er und doch war da nichts als Luft.
Sie erstarrte in ihrer Bewegung, als er flüsterte: »1935 habe ich zum letzten Mal mit jemandem gesprochen. Also verzeih, wenn ich etwas altmodisch klinge. 1935. In jenem Jahr habe ich zum letzten Mal gesprochen. Geküsst. Geliebt.«
Caroline rang nach Luft. Sie sprang auf, raffte ihren Text und ihre Tasche, hüpfte von der Bühne und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Theater. Die Schwingtür schlug hinter ihr ins Leere, als sie keuchend mit einem Satz auf den Bürgersteig lief. Ihr brach der Schweiß aus und gleichzeitig schauderte sie an der frischen Luft.
Gierig sog sie die kühle Nachtluft ein, bis ihre Lungen zerspringen wollten. Erst krümmte sie sich zusammen, um sich etwas zu beruhigen. Dann richtete sie sich auf und legte den Kopf in den Nacken, um ihren Schwindel zu besiegen.
Gott sei Dank, hoch oben am Berliner Himmel leuchteten die Sterne. Sie standen beruhigend still und langsam legte sich der Taumel. Caroline sah wieder zum Theater: Der Penner hatte sich im Eingang des Bimah zu einem Bündel Mensch zusammengerollt. Im Erdgeschoss brannten noch immer alle Lichter, doch nach ein, zwei Atemzügen erloschen sie mit einem Mal.
Wie von Geisterhand.
Caroline ballte die Fäuste. Sie konnte noch nicht gehen. Ihr fehlte nach ihrer plötzlichen Flucht die Kraft dazu, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Johannes Steiner. Seine Blässe und seine beinahe altmodische Schönheit.
Ich habe bei Max Reinhardt gelernt
. Seine Redewendungen …
1935
.
Gesprochen. Geküsst. Geliebt.
Die Wunde in seinem Bauch.
Mord. Nur ein dummer Scherz
. Und:
Ich bin immer da
.
Das gab es doch nicht. Oder doch? Sie sah Leute durch die Fasanenstraße kommen. Nein, jetzt wollte sie niemanden treffen.
Caroline lief los und stolperte einige Male, weil ihr Geist voll mit seinen Worten war. Voll mit seiner Nähe und seiner seltsamen Distanz. Voll von seiner Art, ihr die Julia nahezubringen. Julia – hatte sie jetzt einen Weg zu ihr gefunden? Zumindest den Ansatz eines Weges. Jetzt musste sie ihn nur noch gehen. Das hatte sie Johannes zu verdanken.
Sie sah sich noch einmal um. Kam er ihr nach? Nein. Die Tür zum
Bimah
blieb geschlossen und der Penner schnarchte auf der Hausschwelle.
Johannes war streng mit ihr gewesen. Härter als irgendjemand zuvor. Und er wusste so viel über sie. Woher?
Caroline atmete tief durch und verlangsamte ihren Schritt wieder. Kurz vor dem Ku’damm warf sie einen letzten Blick auf das
Bimah
. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet. Johannes und ihre gemeinsame Arbeit war nichts als ein Sommernachtsstraum. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht vom
Bimah
lösen. Waren wirklich alle Lichter dort drinnen gelöscht?
Nein. Nicht alle.
Das Geisterlicht
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