Sommerprickeln
Anlässen. Wie heute.«
Annajane griff nach dem zerlesenen Bilderbuch. Nach eigener Schätzung hatte sie Sophie Häschen läuft weg mindestens hundertmal vorgelesen. Die Ecken des Pappeinbands hatten Eselsohren, auf dem Buchdeckel prangten violette Krakeleien, doch nichts hatte Sophies Begeisterung für ihr Lieblingsbuch je mindern können.
Sie nahm ihre Buntstifte und begann, auf das Druckerpapier zu malen, das sie sich aus Masons Arbeitszimmer geholt hatte.
»Was malst du da?«, fragte Annajane neugierig.
»Eine Ab-bil-dung«, erklärte Sophie stolz. »In der Schule malen wir bei Miss Ramona neue Abbildungen für die Bücher. Das ist meine Hausaufgabe. Ich mache Abbildungen für Häschen läuft weg .«
Die rosa Brille rutschte ihr die Nase hinunter, als sie sich über das Bild beugte und mit großer Sorgfalt ein kleines Häschen zeichnete. Dann warf sie Annajane einen Blick zu. »In der Schule liest uns Miss Ramona die Geschichten vor, wenn wir malen.«
»Na dann muss ich das wohl auch tun …« Annajane legte das Schälmesser beiseite, schob die Salatschüssel und das Holzschneidebrett von sich und griff zu dem Buch.
»Es war einmal ein kleines Häschen, das weglaufen wollte«, las sie vor. »Deshalb sagte es zu seiner Mutter: ›Ich laufe weg.‹«
Mason drehte die Hühnerteile in der Pfanne um und legte den Deckel schräg darauf. Er stellte sich hinter Annajane, schaute ihr über die Schulter und las weiter: »›Wenn du wegläufst‹, sagte die Mutter, ›laufe ich dir hinterher. Denn du bist mein kleines Häschen.‹«
Sophies Zungenspitze kam aus dem Mund, als sie konzentriert die Ohren des Häschens malte. »Ich würde nie von meiner Mama weglaufen, wenn ich ein kleines Häschen wäre«, bemerkte sie, während sie die orangen Ohren mit einem braunen Stift ausmalte.
»Selbst wenn es nur ein Spiel wäre wie Verstecken, das wir manchmal spielen?«, fragte Mason.
»Nein«, erklärte Sophie feierlich. »Wenn ich eine Mama hätte, würde ich nie, nie, nie weglaufen.«
Annajane warf Mason einen kurzen Blick zu. Er wirkte betroffen. »Sophie«, sagte er einfühlsam. »Du weißt doch, dass du eine Mama hast. Das habe ich dir erzählt, weißt du noch?«
Sophie malte weiter, nahm einen grauen Buntstift für den runden Körper des Häschens. »Meine richtige Mama heißt Kristy. Sie lebt jetzt in Florida und hat mich ganz doll lieb, aber sie kann sich nicht um mich kümmern, deshalb hat sie Daddy gefragt«, leierte sie herunter.
»Du machst mich echt fertig«, murmelte Mason. »Weißt du, Sophie, als du zu mir gekommen bist, habe ich mir gedacht, dass ich eine Weile dein Daddy und deine Mama in einer Person bin. Dann habe ich Letha gefragt, ob sie mir wohl helfen könnte, auf dich aufzupassen, wenn ich bei der Arbeit bin. Deine Tante Pokey hat auch mitgeholfen, und Annajane auch. Du hast wirklich viel Glück, weil es so viele Menschen gibt, die dich liebhaben und sich um dich kümmern, nicht nur eine Mama.«
Sophie sah ihn nachdenklich an. »Das Weglauf-Häschen braucht nur eine Mama. Die Kinder in der Schule haben alle nur eine Mama. Außer Lucy, die hat zwei. Und Clayton, Denning und Petey haben auch nur eine Mama, nämlich Tante Pokey. Mehr brauche ich auch nicht.«
Annajane und Mason tauschten einen besorgten Blick aus, aber Sophie, die das Buch auswendig kannte, war bereits beim nächsten Bild und malte einen Fisch in einem Fluss. »Lies weiter, bitte«, sagte sie zu Annajane.
Annajane gehorchte. »›Wenn du ein Fisch im Fluss wirst‹, sagte die Mutter, ›werde ich ein Fischer und angle dich.‹«
Sophie malte dem Fisch einen grünen Körper, eine gelbe Schwanzflosse und eine rote Rückenflosse. Mit blauen Wellen stellte sie den Fluss dar, und neben den Fluss malte sie ein Strichmännchen in einem Kleid, mit langen braunen Haaren und roten hochhackigen Schuhen, das eine Angel in der Hand hielt.
»Wer ist das?«, fragte Mason und tippte auf die Figur.
»Das ist Mama«, sagte Sophie und verdrehte die Augen angesichts der Ahnungslosigkeit ihres Vaters. »Ts!«
»Die sieht aber nicht wie ein angelnder Hase aus«, bemerkte er.
»Diese Mama ist eine feine Dame. Wie Annajane«, erklärte seine Tochter. »Guck doch, sie hat braunes Haar wie Annajane.«
»Und rote Schuhe«, fügte Annajane hinzu. »Ich habe ein Paar rote Schuhe, die genau so aussehen.«
Mason schlang die Arme um Sophie. »Wir haben gedacht, Annajane und ich, wenn wir heiraten, dann ist Annajane ja meine Frau. Und sie könnte deine
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