Sommerrot
des Fahrstuhls sinken und höre, dass Tino das gleiche tut, dennoch berühren wir uns nicht.
« Mein Freund hatte mich vor etwa einem halben Jahr verlassen. Seither mühe ich mich ab, die Raten für das Haus, das wir für unsere zukünftige Familie gekauft hatten, aufzubringen. Ich musste sogar mein Auto verkaufen, damit ich einigermaßen über die Runden kam, deshalb radle ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit. Marcus hat sich einfach mit einem Post-IT-Abschiedsbrief aus dem Staub gemacht und ist zu allem Überfluss in den Urlaub auf die Bahamas geflüchtet, wie ich dann von seinem Chef erfahren musste und das, wo ich jeden Cent zwei mal umdrehen muss. Eigentlich war ich schon über ihn hinweg, aber am nächsten Tag, als wir beide uns das erste mal getroffen hatten, sah ich ihn dann wieder. Er brauste in einem Cabriolet an mir vorbei – eine blonde Frau kuschelte sich an ihn. Als er mich sah, winkte er mir zu und rief 'Hallo Lena! Schöner Tag, heute, was?' Ich konnte meine Wut kaum bändigen und als ich dann im Büro einen schimpfenden Kunden am Apparat in Schach halten sollte, wurde mir alles zu viel. Ich heulte los, als in dem Moment dein Vater den Raum betrat. Er nahm mir den Hörer aus der Hand und legte ihn auf die Gabel. Dann zog er mich zu sich heran und umarmte mich tröstend. Ich ließ es geschehen, weil ich mich in diesem Moment so schwach fühlte und er für mich wie eine starke Stütze aufrecht hielt. Doch plötzlich näherte er sich meinen Lippen und küsste mich. Ich war viel zu aufgewühlt und erschrocken, um mich zu wehren. Ich schätze, genau diesen Augenblick hast du gesehen. Denn wenn du länger hingeschaut hättest, dann hättest du gesehen, wie ich deinen Vater von mir weg stoße und mich heulend im Klo einschließe.»
Pl ötzlich flackert das Licht im Aufzug, um dann wieder komplett zu erlöschen. Aber dieser kurze Lichtblitz reicht aus, dass ich sehe, wie Tino an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden kauert, das Gesicht in den Händen vergraben. Ich rutsche zu ihm hinüber und lege meinen Arm um seine Schulter.
« Lena!», flüsterte er heiser, «es tut mir so unendlich Leid, wie ich mich verhalten habe. Ich bin der größte Idiot aller Zeiten.»
« Ist schon gut. Wenigstens kann ich jetzt deine Wutausbrüche verstehen, ich dachte schon, du seist irre.»
« Es ist gar nichts gut. Ich schäme mich in den Boden. Wie kann ich das je wieder gutmachen?»
« Das brauchst du wirklich nicht. Ich bin unendlich froh, dass wir das geklärt haben.»
Wir schwiegen und ich legte den Kopf auf seine Schulter. Dann sp üre ich, wie er meine Haare langsam durch seine Finger gleiten lässt.
« Wenn sich deine Mutter umbringen wollte, weshalb saß dann dein Vater auch mit im Auto?», frage ich vorsichtig. Ich habe Angst, dass er bei dem Thema aus der Fassung gerät, aber er bleibt ruhig.
« Niemand weiß das. Vielleicht hatte er geahnt, was meine Mutter vor hatte und wollte sie daran hindern. Allerdings saß er am Steuer und die Polizei geht davon aus, dass meine Mutter ihm ins Steuer gegriffen hat, so dass der Wagen von der Fahrbahn abkam und in einen Laternenmast prallte.»
« Du hast der Polizei den Brief gezeigt?»
« Ja! Ich dachte, die Polizei kann vielleicht klären ob es sich wirklich um einen Selbstmord handelt. Ich hatte die Hoffnung, dass es vielleicht nur ein Unfall war. Aber man konnte mir dort nicht weiterhelfen!»
« Ein Unfall wäre weniger schlimm für dich, weil es bedeutete, dass deine Mutter vielleicht nicht ganz so verzweifelt war, um sich tatsächlich das Leben zu nehmen und ihren Mann auch noch mit in den Tod zu schicken!»
« Ja», flüsterte Tino, «es würde mich sehr erleichtern, zu wissen, dass es nur ein Unfall war!»
Wir schwiegen eine Weile und sp ürten die Nähe des anderen. Es fühlte sich an, als schwebte ich schwerelos auf der gleichen Welle gemeinsam mit Tino durch den Raum.
« Hast du denn eine Ahnung, mit wem mein Vater ein Verhältnis gehabt haben könnte?», fragte Tino plötzlich.
« Hm, ich habe eine Ahnung. Aber ich möchte keine Verdächtigungen aussprechen, ohne sichere Beweise zu haben. Manchmal sehen Dinge eben ganz anders aus, als sie tatsächlich sind, wie wir ja selbst gemerkt haben.»
Tino st öhnt leise.
« Es tut mir so unendlich Leid, Lena!»
« Du hast dich jetzt genug entschuldigt. Wenn ich das noch einmal hören muss, dann....», mir fiel keine passende Drohung ein, sondern nur Dinge wie «küsse ich dich bis zur
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