Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Geist sich, noch immer schlafend, an einem anderen Ort aufhalten. Und als Dewayne das Blattwerk vor sich mit einem Arm zur Seite schob, brannte das Licht in ihren Augen so stark, dass sie ihre Hand davor hielt und einen Moment innehalten musste, um sich daran zu gewöhnen. Sie zitterte am ganzen Körper, als ihr Gesicht von einem frischen Wind gestreift wurde und sie das Summen von Bienen vernahm. Und als sie allen Mut zusammen nahm und endlich ihre Augen öffnete, verschlug es ihr die Sprache. Um sie herum waren Blumen und Gras so hoch gewachsen, dass sie sich auf ihre Zehenspitzen stellen musste, um darüber hinweg sehen zu können. Blau glänzende Libellen ließen sich auf ihrer Hand nieder und gleich hinter ihr blühten in strahlendem Rot die wunderschönsten Blumen, die sie je gesehen hatte. Ungläubig strich sie mit ihren Fingern darüber, und selbst als Keylam an ihre Seite trat, eine der Blüten pflückte und in ihr Haar steckte, konnte sie sich noch immer nicht erklären, was geschehen war.
„Wo sind wir?“, fragte sie befangen.
„Noch immer an demselben Ort, an dem du zur Blauen Lady geworden bist“, entgegnete Keylam.
Sie rang sich ein misstrauisches Lächeln ab. Er scherzte. Entweder das oder aber es war ein Traum. Aber hatte es in ihren Träumen jemals gekitzelt, wenn eine Libelle auf ihrer Haut entlang gelaufen war?
„Komm mit!“, sagte Neve, nahm ihre Hand und lief ausgelassen mit ihr durch die Gräser.
Arrow versuchte etwas zu sehen, wollte wissen, wo genau sie sich gerade befanden, doch es nützte nichts. Die vielen neuen Eindrücke verwirrten sie. Da war der Duft von Lavendel, Beeren und Moos. Zugleich roch es auch nach Regen, Narzissen und überreifem Obst. Ein Bach plätscherte in der Nähe, Vögel zwitscherten und nicht weit entfernt ertönte überschwängliches Gelächter. Überall flogen knallige Farben an ihr vorbei, das Rot der Blume, die sie im Haar trug, goldene Getreidefelder, blaue Kornblumen, aber vor allem war es grün, grün soweit das Auge reichte. Und als sie schon ganz benommen war von den wundersamen Dingen, die sich um sie herum zutrugen und die so vertraut, aber zugleich auch vollkommen neu erschienen, machte Neve Halt. Sie zeigte auf das Schloss, das beinahe nicht wieder zu erkennen war. Obstbäume, die ganz frühlingshaft in voller Blüte standen, erstreckten sich auf dem Weg dorthin. Schmetterlinge umkreisten sie und wohin man sah, erblickte man Bienen. Die Blumen in den Kübeln erstrahlten in so zahlreichen Farben, dass es wie ein wild betupftes Fingerbild anmutete. Und über die satten, grünen Hänge, die zum Schloss hinaufführten, liefen Männer und Frauen wie kleine Kinder. Sie kicherten, fielen sich in die Arme und kosteten genüsslich von den Früchten, die den Sommer bereits erreicht hatten.
„Ist das ein Traum?“, fragte Arrow ungläubig.
„Es ist ein Traum“, entgegnete Keylam mit leuchtenden Augen. „Ein Traum, der wahr geworden ist.“
„Dann muss Elfenzauber im Spiel sein.“
„Die Schmetterlinge sind nicht echt“, entgegnete Dewayne schuldbewusst.
„Und was noch?“
Niemand antwortete, doch sie alle hatten ein Lächeln auf ihren Lippen, das mehr ausdrückte als tausend Worte.
„Aber das kann nicht sein“, stammelte Arrow. „Bevor ich meine Kleider abgelegt und mich in der Höhle in den Schlaf begeben habe, hat es hier nichts weiter als tote Pflanzen, einen schlammigen Boden und ein kahles Schloss gegeben. Wie ist das möglich?“
„Es gab eine Lichtung voller Apfelbäume“, erwiderte Neve, „und zwar an genau der Stelle, an der ein paar Tage zuvor rein gar nichts gewesen war.“
Arrow musterte sie verwundert. Dann sah sie wieder zum Schloss. Alles sah beinahe genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch an diesem Ort. Sie blickte zu dem Teich, in dem sich seinerzeit noch Nixen getummelt hatten, schaute zum Wald, aus dem damals die Sylphen getanzt kamen und sah die lange Treppe hinauf, in dem Glauben, ihr Vater würde jeden Moment die Stufen hinunterkommen. Doch all diese Dinge geschahen nicht. Im Moment gab es weder Nixen noch Sylphen oder ihren Vater, nur jede Menge Fragen und ein Gefühl, das ihr Herz höher schlagen ließ. Es war eine Mischung aus Zweifel und Ungläubigkeit, aber sehr viel mehr noch war es etwas, das sie überwältigte und zugleich glücklich und euphorisch stimmte.
„Wie lange bin ich denn weg gewesen?“, fragte sie beeindruckt.
„In wenigen Wochen ist Sonnenwende“, entgegnete Keylam. „Also beinahe
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