Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
Vom Netzwerk:
verteidigen kann.
Die Krähe wird es bis auf das letzte Kind ausrauben. Ich gehe zurück ins Haus,
wo nur das Transistorradio leise Töne spuckt.
    Â»Julie« steht auf dem Umschlag des kleinen Buches, das auf der Kommode
neben der Pfanne mit dem alten Rosmarinfisch liegt, neben dem Glas
Erdbeermarmelade und einem klebrigen Messer. Ich klappe das Buch auf. Julies
Wörter sind rund und nach rechts gebeugt, sie gleichen den Zeilen aus dem Brief
nicht. Ich fege das Buch mit dem Handrücken von der Kommode.
    Ich mache Kaffe und heiße Milch. Mit der Tasse setze ich mich an den
Tisch und warte, schaue zu Jans Haus. Die Haustür geht auf und Julie tritt
heraus, kommt durch die Gärten rüber zu mir. Sie sagt nichts, geht ins Bad. Ich
höre, wie die Dusche angestellt wird, ich sehe, wie Jan vor sein Haus tritt und
sich streckt, er sieht mich durch das Fenster hindurch und winkt mir.
    Als ich mich umdrehe, sehe ich Julie, die langen Haare nass auf der
Schulter, sie lächelt mir zu, das erste Mal lächelt sie mich an, auf ihrem
Schneidezahn ein heller, an den Seiten auslaufender Fleck.
    OB ICH IHM ZIGARETTEN holen
könne, fragt mein Vater, er steht vor dem Schuppen und raucht. Er drückt mir
ein paar Münzen in die Hand. Ich solle es meiner Mutter aber nicht verraten.
Mein Vater bläst den Rauch in Kringeln in die Luft, ich versuche, sie mit den
Händen zu fangen. Die Zigarettenstummel sammelt er in einer alten Tasse, in die
er ein wenig Wasser gefüllt hat.
    Vier Monate hat mein Vater in der anderen Stadt in einem großen,
weißen Haus mit alten Türen verbracht. In wenigen Tagen hat er Geburtstag. Es
ist immer noch Sommer, es ist immer noch so heiß, dass der Rasensprenger erst
angemacht werden darf, wenn der Schatten des Kirschbaums größer wird. Meine
Mutter hat uns heute Morgen den Bastkorb mit Limonade, frischem Obst und
Butterbroten gepackt, so wie in den letzten zwei Wochen, in denen sie wieder in
ihrer Buchhandlung arbeiten musste. Seit ein paar Tagen findet sie den Korb am
Abend unangetastet im Flur. Sie schimpft nicht, wenn sie ihn sieht. Sie packt
den Korb am nächsten Morgen erneut.
    Mein Vater geht nicht mehr im Freibad schwimmen, er
arbeitet nicht mehr im Garten, er spricht nicht mehr von Zukunftsplänen, von
Reisen.
    Manchmal drückt er seine Hände links und rechts gegen die Schläfen,
und wenn ich ihn frage, was er habe, sagt er: »Kopfschmerzen.«
    Mein Vater sitzt im Wohnzimmer und richtet den Blick auf den Gameboy
in seiner Hand, manchmal setze ich mich neben ihn, sehe zu, wie er Stein auf
Stein schichtet.
    Â»Ich möchte auch einen Gameboy«, sage ich abends zu meiner
Mutter. Sie steht in der Küche und zieht die nasse Wäsche aus der Maschine,
trägt sie im Korb auf die Terrasse. »Nein«, sagt sie. Es ist ein so
durchdringendes Nein, dass ich nicht noch einmal nachfrage.
    JAN SAGT, ER WOLLE mir
jemanden vorstellen, und Julie komme auch mit, genau genommen sei es ihre Idee.
    Wir gehen im Gänsemarsch die Straße entlang, die ins Dorf führt.
Erst Julie, dann Jan, ich komme zuletzt. Ein Tattoo ziert Julies rechtes
Schulterblatt, ein sonnenähnliches Gebilde, ein runder Körper, von dem Strahlen
abgehen.
    Uns fehlen nur die Strandmatten in der Hand und ein Sonnenschirm
über der Schulter, dann könnte man uns für Freunde halten. Wir wechseln kein
Wort miteinander. Man könnte denken, dass wir Freunde seien, die sich
gestritten haben oder die sich nach den vielen gemeinsamen Urlaubstagen einfach
leicht auf die Nerven gehen. Julie hat sich freigenommen oder hat heute sowieso
ihren freien Tag, so genau weiß ich das nicht.
    Wir stehen vor der Bar du Matin, zwischen den weißen Plastikstühlen
und dem »Moules-Frites« -Schild,
und Jan guckt immer wieder auf seine Uhr, als habe er es eilig oder noch einen
Termin. Julie setzt sich auf einen Stuhl, streckt die Beine von sich und legt
die Arme hinter den Kopf.
    Als eine ältere Frau mit einer Holzkiste in den Händen auf uns
zukommt, winkt Jan ihr ein wenig schüchtern, als wolle er kein Aufsehen
erregen. Die Frau ist vielleicht Mitte fünfzig, sie hat eine zierliche Statur und
ihre dunklen, schulterlangen Haare sind von grauen Strähnen durchzogen. Sie
trägt ein dunkelgraues, knielanges Kleid. Ich sehe sie durch Paris schlendern,
sehe sie in einer Chocolaterie, wie sie ihren Gästen heiße Schokolade mit ein
wenig Chili anbietet, ich

Weitere Kostenlose Bücher