Sommerzeit
Mit
ihren neunzehn Jahre war sie noch nie im Ausland gewesen.
»Das hier.«
Vera ließ die Hand über das Bett fahren. Tanja musterte die Kleiderstapel, sah sich den Inhalt des Rucksacks an, hob das eine oder andere Kleidungsstück hoch.
»Sonst nichts?«
»Nein, wieso?«
»Aber gehen wir nicht auch mal tanzen, du und ich? In Stockholm oder wenigstens in Visby?«
Sie versetzte ihrer Schwester einen Rippenstoß.
»Ich möchte doch ein bisschen Spaß mit den süßen Schweden haben. Das können wir uns nicht entgehen lassen, wenn wir schon mal da sind. Da soll es die tollsten Jungs der Welt geben, weißt du das nicht?«
»Glaubst du das wirklich?«
»Aber Herrgott, hast du denn keine Bilder gesehen? Und die Schwedinnen sind schließlich weltberühmt – warum sollen die Männer nicht auch so gut aussehen?«
»Da hast du Recht«, lachte Vera und öffnete ihren Kleiderschrank. Etwas zum Ausgehen musste sie natürlich auch mitnehmen. »Natürlich gehen wir tanzen. Das kann ich brauchen.«
Eine Woche zuvor hatte Gotthard plötzlich Schluss gemacht. Er hatte in den Ferien in Portugal eine andere kennengelernt. Noch dazu eine Schwedin.
Vera hatte immer schon Pech in der Liebe gehabt, ganz anders als ihre jüngere Schwester. Sie begriff eigentlich nicht, woran das lag. Sie sahen sich ziemlich ähnlich, was sie unterschied war vor allem das Temperament. Vera war ernster, nachdenklicher. Ihr fehlte die Spontaneität ihrer Schwester. Manchmal wäre sie gern so gewesen wie Tanja,
offener, lustiger, zugänglicher. Vor allem, wenn sie sah, wie Tanja alle Aufmerksamkeit auf sich zog, sogar die der Eltern. Aber das hing nicht nur mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Vera wusste nur zu gut, woran es lag, aber es tat trotzdem weh. Tanja war mit dreizehn an Leukämie erkrankt und danach lange sehr krank gewesen. Die Eltern waren vor Schock und Verzweiflung wie gelähmt gewesen und hatten Tanja all ihre Zeit gewidmet. Vera hatte sehen müssen, wie sie zurechtkam. Ihren eigenen Kummer und ihre Angst um ihre Schwester hatte sie mit sich ausmachen müssen.
Aber am Ende war ja alles gutgegangen. Nach einer intensiven Behandlung hatte Tanjas Körper den Blutkrebs schließlich besiegt. Langsam wurde sie wieder wie früher und hatte noch an Stärke und Energie gewonnen. Sicher freute sich Vera unendlich darüber, dass Tanja überlebt hatte, aber die Liebe der Eltern und deren Fürsorge für die Schwester schienen sich nach der Krankheit nun noch zu steigern.
Manchmal, wenn ihr Vater mit Tanja plauderte und lachte, während Vera sich ebenfalls im Zimmer aufhielt, sah er sie plötzlich an, als ob er sie eben erst entdeckt hätte und von ihrer Anwesenheit überrascht wäre. Dann wirkte er fast beschämt, als fühle er sich ertappt. Und das war irgendwie noch schlimmer.
Seltsamerweise war Vera nicht wütend auf ihre Schwester, obwohl zwischen ihnen dieses Ungleichgewicht bestand. Jetzt nicht mehr. Es war schlimmer gewesen, als sie klein waren, damals hatte sie ihre Schwester heimlich gekniffen und gestoßen, um es ihr wenigstens ein bisschen heimzuzahlen. Jetzt, wo sie so gut wie erwachsen waren, hatte sie sich mit der Lage abgefunden. Glaubte sie. Sie
würde es doch nie mit Tanja aufnehmen können, ob es sich nun um die Aufmerksamkeit der Männer oder die der Eltern handelte. Sie wollte sich nicht mehr mit Tanja vergleichen. Dadurch wurde sie nur deprimiert.
Jetzt spürte sie, wie Tanjas Eifer und Reisefreude auf sie übergriffen. Vera liebte ihre Schwester wirklich, es war nicht deren Schuld, dass alles so war, wie es eben war.
»Du kriegst ja doch alle Typen ab«, sagte sie und seufzte, als Tanja sich in einem scharfen Top nach dem anderen präsentierte.
»Tu ich überhaupt nicht. Du siehst doch supergut aus. Na los, wir packen auch ein paar heiße Teile ein, egal, was Papa sagt.«
»Na gut.«
Oleg lief in der Wohnung hin und her, pfiff und tanzte, packte Sabine und schwenkte sie umher, bis sie laut lachte. Vera hatte ihren Vater noch nie so aufgekratzt erlebt. Ihr ganzes Leben lang redete er schon von Gotska Sandön, wie schön es dort sein musste, von den vielen seltenen Vögeln, Seehunden, Pflanzen. Dass sein Urgroßvater bei einem Schiffbruch vor einer Bucht namens Französische Bucht ums Leben gekommen war, dass er dort begraben war, dass drei Kanonen vom Schiff gerettet worden waren und noch immer auf der Insel standen. Seit die Reiseerlaubnis eingetroffen war, redete er kaum noch von etwas anderem.
K arin Jacobsson und
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