Sommerzeit
nicht.«
Die Vorstellung, sich in das Zimmer zu legen, das sie mit Tanja geteilt hatte, war zu schrecklich.
»Willst du mit mir kommen?«
»Ja, bitte.«
Sie gingen am Zeltlager vorbei. Vera spürte die neugierigen Blicke der anderen. Die Polizei jedoch schien nicht zu wissen, wer sie war.
Rasch gingen sie weiter. Er hielt ihren Arm und führte sie zu den Häusern des Heimatvereins. Sie blieben vor einem roten Holzhaus stehen, das ganz hinten lag. Vera
war so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Eine schmale Treppe führte in den ersten Stock. Er kochte Kakao und schmierte ihr einige Brote, die sie auch hinunterbrachte. Sie saßen einander gegenüber an dem kleinen Tisch. Plötzlich hörten sie draußen ein Dröhnen. Er schaute hinaus.
»Das ist der Polizeihubschrauber.«
Vera brachte keine Antwort heraus.
D as Museum war leer, als Karin dort eintraf. Es bestand aus nur zwei Räumen, einer enthielt die eigentliche Ausstellung aus Gegenständen aus dem Meer und von der Sandinsel sowie Wandtafeln, die über deren Geschichte berichteten. Der andere Raum wurde als Bibliothek genutzt. Die Wände waren mit Regalen voller Bücher über Gotska Sandön, Leuchttürme und Fischerei bedeckt. Auf einem Tisch lagen Ordner zu unterschiedlichen Themen: Die Tagebücher der Leuchtturmwärter, Zeitungsausschnitte aus allerlei Epochen, allgemeine Informationen. Karin blätterte darin und war abermals erstaunt, wie wenig sie über die Insel gewusst hatte. Sie setzte sich und sah die Ordner durch. Die Aufzeichnungen der Leuchtturmwärter machten ihr klar, wie hart das Leben für diese Leute gewesen sein musste, und sie war entsetzt über die große Anzahl von Schiffen, die im Laufe der Jahre bei der Insel untergegangen waren. In der Nähe von Franska Bukten lag sogar ein Friedhof, auf dem nach einem Schiffbruch russische Seeleute bestattet worden waren.
Plötzlich fiel ihr Blick auf einen Ordner mit dem Titel »Verbrechen auf der Insel«. Die erste Seite zeigte einen Zeitungsausschnitt vom Beginn des 20. Jahrhunderts, als
ein Leuchtturmgehilfe in Verdacht geraten war, den Leuchtturmwärter durch mit Arsen vergifteten Makkaroni ermordet zu haben. Es gab Berichte über Diebstahl, Plünderungen von gestrandeten Schiffen und über einen Mann, der während der Überfahrt zur Insel einen Widersacher über Bord geworfen hatte.
Ein Artikel über das Verschwinden einer jungen Frau fesselte ihre Aufmerksamkeit. Es ging um die Suche nach einer Deutschen, die 1985 nach einem Ausflug nach Franska Bukten, wo sie mit ihrer Schwester übernachtet hatte, verschwunden war. Die Familie hatte am nächsten Abend die Polizei alarmiert, und am folgenden Morgen war eine Streife eingetroffen. Die Insel war durchkämmt worden, aber das hatte nichts erbracht. Der nächste Artikel trug die Überschrift: »Verschwundene tot aufgefunden!« Karin las mit wachsendem Interesse. Ein Polizeihubschrauber hatte Tanja Petrovs Leichnam ein Stück außerhalb von Franska Bukten im Wasser gefunden.
Zunächst war man von einem normalen Tod durch Ertrinken ausgegangen. Dann folgte eine Reihe von Artikeln über den Fortgang der Geschichte. Es hatte sich herausgestellt, dass die Frau durchaus nicht ertrunken war. Sie war ermordet und danach ins Wasser geworfen worden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung hatte ergeben, dass sie durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf getötet worden war, sie war gewürgt und aller Wahrscheinlichkeit nach vergewaltigt worden. Karin bekam beim Lesen eine Gänsehaut. Die Polizei hatte landesweit nach einem Boot mit zwei Männern fahnden lassen, vermutlich Stockholmern. Die Vernehmung der Schwester hatte ergeben, dass die beiden jungen Frauen die Männer kennengelernt hatten, als deren
Segelboot bei Franska Bukten vor Anker gegangen war. Sie hatten am Strand gezecht, dann war die ältere Schwester schlafen gegangen. Morgens waren die jüngere Schwester, die beiden Männer und das Boot verschwunden gewesen. Einige Tage darauf war die Leiche der Frau dann im Wasser vor Franska Bukten gefunden worden.
Die Abendzeitungen hatten sich in der Geschichte gesuhlt und das Leben der Familie Petrov ausgebreitet, wie der Vater aus der Sowjetunion geflohen war und sich im Westen ein neues Leben aufgebaut hatte. Wie Tanja von ihren Klassenkameraden vermisst wurde und wie die Sonnenscheingeschichte der glücklichen Familie, die endlich ihre Traumreise nach Gotska Sandön antreten konnte, sich in eine
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