Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
mir Gedanken, was dann aus den Tieren wird.
Im Radio nichts Vernünftiges. Ich las in dem Gott sei Dank gerade gekauften Buch«12 Jahre»von Joel Agee. Seit langem hat mich ein Buch nicht so bei der Stange gehalten. Ich dachte dauernd: So müßtest du schreiben können.
2007: Agee lebt jetzt in New York als Rilke-Übersetzer. Sein Vater war ein bekannter US-Autor. Und er selbst Stiefkind von Bodo Uhse.
In der FAZ heute kein Wort über den Jahrestag des Mauerfalls. Unter den Leserbriefen stand was.
Seit Tagen werden wir in den Medien mit dem ekelerregenden Lenin-Denkmal in Berlin geelendet. So was kann es auch nur in Deutschland geben! Diese 26 Chaoten, die davorsitzen und«mahnen», sollten sie versauern lassen, das ist doch gar nicht berichtenswert. Laßt sie doch einfach da sitzen!
Mit dem Fernsehen ist es aus. Da herrschen die Kindergeburtstagssendungen für Erwachsene («Wetten, daß?»,«Bingo»etc.), die idiotisierten Ansagerinnen, die einseitig ausgewählten Nicht-Nachrichten vor.
Heute wurde eine schwedische Oper geschrien, auf der Bühne passierte allerhand Gegenwärtiges. Schwedische Dirigentinnen wurden gezeigt, aber immer nur in Nahaufnahme.«Die Musiker müssen sich sicher fühlen», sagt eine vorm Spiegel, wo sie gerade übt.
Ein dummer Krimi von Meichsner, endlos lang, ohne jede Spannung. Ein alter Edgar Wallace (1967).
Ein Film über ein russisches Dorf, einfache, verdreckte Bauern, eine halbeingefallene Kirche, rührte mich, aber das ganze war zu elegisch und mit falscher Musik unterlegt, etwas Modernes. Endlose Einstellungen.
«Ein Gespenst geht um: die Monarchie in Rußland», sagte eine Moderatorin! Da kenn’ ich andere Gespenster.
Hier im Dorf hab’ ich eins gesehen, heute nacht, ging mit den Hunden an dem Haus vorbei, in dem jetzt das vietnamesische Ehepaar wohnt. Ich sah die junge Frau im Nachthemd das Licht, vorn, ausknipsen. Sie schien mir ängstlich zu sein. Ich ging weiter, drehte mich noch mal um, und da sah ich einen jungen Burschen von hinten ans Haus heranschleichen. Ich dachte, der gehört dahin oder: der will rauchen – er steckte eine kleine Silvesterrakete an den Türdrücker und zündete sie an. Sie zischte in die Luft, aber ohne zu knallen. Was das sollte? Ich ging zurück, aber da war niemand mehr zu sehen. – Weshalb lädt man die Fremdlinge nicht mal zu sich ein? Weil sie kein Deutsch sprechen.
Telefonat mit Bittel wegen des Einbandes für M/B. Ich habe ein anderes Bosch-Bild vorgeschlagen, oder: ein Gemälde von hinten. In Freiburg ist gerade eine Ausstellung, vielleicht gibt es dort einen Katalog. – Ich lud ihn zum Seminar ein.
Auch mit Vesper telefoniert.
Immer noch schwach von der letzten Nacht.
In einer Fernsehdiskussion über Hoyerswerda:
«Und wo war der Bundeskanzler?»
«Ja, wo war er …?»
Wo soll er denn gewesen sein?
Nartum So 10. November 1991
I945: Gründung des WBDJ – Weltjugendtag
I982: Leonid Breschnew gestorben
Tag des Chemiearbeiters
Geht mir wieder besser. Die Selbstgerechtigkeit der Kaufmannsfrau in Bremen: Natürlich ist die Wurst gut – und sie war es eben nicht. Ich bin in diesem Geschäft schon mal reingefallen – Nahrungsmittelvergiftung. Ein Delikatessengeschäft in Bremen, in dem x-beliebige Marmelade verkauft wird? Das ist wider die Natur. Früher gab es in Bremen mal Grashoff-Marmelade zu kaufen! Ganze Früchte, wundervoll. Das hat sich wohl nicht rentiert.
Ich telefoniere jeden Tag mit Hildegard in Berlin. Sie rühmt unsere neue Wohnung dort. Die scheint ja wirklich schön zu sein. Renate habe Schlimmes von mir geträumt. Ich hätte sie rausgeschmissen, weil sie noch nie was gelesen hat von mir. – Nun, deshalb würde ich sie nicht rausschmeißen, aber wundern tut es mich schon, daß sie den«Sirius»nicht liest.
Hat Erika Mann den«Faustus»nicht beim Friseur gelesen? Und dann Nervenzusammenbruch unter der Haube? Wie war das noch?
Ruhiger Tag, der schlecht anfing. Hunde hatten ins Haus gemacht.
Weiter in dem schönen Erinnerungsbuch von Agee:«12 Jahre», ein amerikanisches Kind, das in der DDR aufwächst, sehr gute Beobachtungen. Beneidenswert gut geschrieben.
Zum Kaffee das Violinkonzert von Pfitzner. Sehr sonderbar, reizvoll. Vor dem grollenden Orchester die einsame Geige, als ob sie in einer anderen Tonart spielt. Abends langes Telefonat mit Schmilgun, der mir die Platte schenkte.
M/B: Letzte Korrekturen. Morgens noch zwei Stunden.«Echolot»: 12. Januar in Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher