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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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jetzt zum Park gewachsen. Ich halte mich sehr zurück, lasse Hildegard da freie Hand. Denke an die Anpflanzzeit. – Die Tragik der Landschaftsgärtner: nie das Erzeugnis ihrer Planung zu Gesicht zu bekommen.
     
    Bilder aus der Schulhauszeit: Lehrer Wolff mit seiner schönen Frau. Hübsche Knie hatte sie. – Die Kinder noch klein.
    Die Schufterei, aber sie war nötig, jetzt schwenke ich ein. Die dunkle Kirchenchorzelle. Gegenlichtaufnahme. Ich fühlte mich schon damals reich.
    Der Weinkrampf, als ich zum ersten Mal ein Bild von Mutter sah, nach sechs Jahren Hoheneck.
     
    Klagenfurt! Corino, der einen Text widerwärtig fand, weil Burger und Berghoff darin Hauptrollen spielten. Wir haben seine«Stern»-Affären-Reaktion nicht vergessen. Bei einem anderen Text drohte er sogar mit dem Staatsanwalt. Daß man über
    Literatur in dieser Form zu Gericht sitzt, hat’s wohl noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben.
     
    Frau Meyer arbeitet so gern bei uns, das ist für sie eine Art Erholung, sagt sie. Ihre Riesenkräfte. Wenn sie an einem Spiegel vorübergeht, riskiert sie immer einen raschen Blick.
     
    Simone hat in Berlin offensichtlich Akten von Geisteskranken aufgetan.
     
    Aus dem Poesiealbum

     
    Albumeintrag Jens-Peter Ostendorf

     
    Albumeintrag Paul Wunderlich

     
    Albumeintrag Jürgen Flimm

     
    Albumeintrag Manfred Eichel

Juli 1991
     

Nartum Mo 1. Juli 1991, Hitze
     
    Tag der Deutschen Volkspolizei (VP)
    Kollege Kasslow macht sich offenbar an Renate ran, sie telefonieren öfter miteinander, schreiben usw. Hildegard meint, daß es für sie nützlich sei, sich mit älteren Herren abzugeben, die könnten einen protegieren.
     
    2007: Hildegard: Das könne sie unmöglich gesagt haben.
     
    Heute konnte ich es gegen die feindliche Umwelt durchsetzen, daß ich ein Stündchen an M/B arbeitete. Der Nachmittag litt dann wieder an ständigen Störungen und an der schwülen Hitze. Im Grunde muß man Störungen positiv bewerten. Man wird herausgerissen, das ist wahr, aber dann setzt man sich auch wieder hin und sieht die Arbeit an, als ob sie sich wie ein Puzzle nur etwas verschoben hat, man sieht alles neu. Störungen können eine erfrischende Wirkung haben. Verrückungen. Wie beim Tanz das Abklatschen.
     
    Die kaugummikauenden Studenten: echte Kamele. Faul sind sie alle. Irgendwelches Interesse darf man nicht erwarten. Aber ein paar ganz nette Kerle sind darunter.
     
    Auf der Autobahn die widerlichsten Beobachtungen. Leute, die sich vordrängen, an der Schlange vorüber und dann vorn rein. Ich hasse Leute, die sich nicht an die Spielregeln halten. Konventionen. Die bürgerlichen Tugenden wurden von den
    68ern verhöhnt und abgeschafft. Man muß sich wundern, daß es immer noch so viele ordentliche Leute gibt.
    Gottlob werde ich demnächst überhaupt nicht mehr am Verkehr teilnehmen. Ich entziehe mich der Welt.
    Mi. Zahnarzt, Fr. Lesung in Langeoog. So geht das weiter, und im Oktober werde ich dann nochmals reisen dürfen.
     
    Zerfahren, explosiv.
    Diese ganze Pädagogik war ein einziger Reinfall. Die von einzelnen ausgedachten Theorien können immer nur einzelne betreffen. Und sie sind an den jeweiligen Pädagogen gebunden. Reichwein mit seiner freien Brust, Geheeb mit dem schütteren Bart. Ja, auch zu Märtin gehörte der distanzierende weiße Kittel und zu Gosselck die Weitsichtbrille (halb), mit der er sich die zu bestimmenden Pflanzen anguckte, die er doch alle kannte. – Es gibt ein paar große Linien in der Pädagogik, die beherzigenswert sind, aber deswegen brauchte man doch nicht so ein Gedöns zu machen. Pädagogen brauchen gar nicht viel zu wissen, aber sie müssen Humor haben und Kinder lieben.
    Wir werden alle darüber eins seyn, daß der Verstand junger Leute am meisten, ja einzig, dadurch gebildet werde, wenn man verständig mit ihnen umgeht, zutrauend mit ihnen spricht, u. das wissenschaftliche verständig treibet; daß ihr Herz am meisten, ja einzig, dadurch gewonnen und gelenkt werde, wenn man ihnen ein väterliches, freundschaftliches, wohlmeinendes, unverdrossen-redliches gutes Herz zeiget. (Johann Gottfried Herder)
    Ein Student heute kritisierte die Pädagogen Kretschmann/ Haase, das wär’ alles so komisch ausgedrückt …
    Da soll er erst mal Pestalozzi lesen. Es gilt doch, aus den Theorien unserer Vorgänger das Brauchbare herauszulösen, zu«retten». Und da läßt sich vieles von diesen alten Herren, von deren Leben ich nichts Näheres weiß, en bloc übernehmen. Mit Zetteln

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