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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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mir
zur Qual. Ich verlor an Geschwindigkeit. Lisa Adolphi drehte sich
kurz zu mir um und rief: »Komm schon!«
    Dann verließ sie die Hauptstraße und lief nach links
auf eine Kirche zu. Ich versuchte ihr zu folgen, aber ich konnte kaum
noch laufen. Mein Atem ging rasselnd und schon begann sich alles um
mich herum zu drehen. Ich hörte das aufgeregte Klappern von
Deschemskis teuren Schuhen hinter mir. Es war schon so nah! Ich
traute mich nicht, einen Blick zurückzuwerfen, sondern humpelte
quer über den Platz auf die weiß getünchte kleine
Kirche zu. Verdammt, was wollte Lisa denn hier, dachte ich. Sie lief
geradewegs in die Falle.
    Da hatte sie das kleine linke Seitenportal erreicht und riss es
auf. Sie drehte sich nach mir um und schrie: »Um Gottes Willen,
lauf doch endlich! Schneller!«
    »Halt!«, keuchte der Kommissar hinter mir.
»Stehen… bleiben!« Er schien ebenfalls ziemlich
atemlos zu sein.
    Jetzt hatte ich Lisa Adolphi erreicht. Sie lief durch einen
winzigen Vorraum in das Innere der Kirche. Es war wie ein Eintauchen
in beschützendes Dunkel. Weihrauchduft hing in der Luft. Die
Kerzen am Altar brannten noch; vor kurzem musste hier eine Messe
gelesen worden sein. Sie rannte bis vor den Altar. Hinter mir
klapperten Deschemskis Schritte durch das Kirchenschiff, das die Form
eines umgekehrten Schiffsrumpfes hatte. »Hab ich euch!«,
keuchte er.
    Sie wandte sich ihm zu und hatte sich bereits so weit erholt, dass
sie in der Lage war, ruhig zu sprechen. »Nichts haben Sie. Wir
befinden uns in einer Kirche und nach dem Gesetz haben Sie nicht das
Recht, uns hier zu verhaften.«
    »Du redest Unsinn, kleine Schlampe. Willst wohl deinen
Mörderfreund verteidigen. Habe mir doch gleich gedacht, dass ihr
beide unter einer Decke steckt!«
    Ein Gedanke, der mir spontan gefiel. Erst jetzt bemerkte ich, dass
Lisa mich vorhin geduzt hatte, als sie mir zurief, ich solle
schneller laufen. Und plötzlich fühlte ich mich gar nicht
mehr so elend.
    Deschemski klapperte mit seinen Handschellen. Jetzt stand er vor
mir. Meine Augen hatten sich an den Dämmerschein gewöhnt,
den die Kerzen aufgeregt durchflackerten. Der Kommissar grinste mich
an wie ein Wolf, der das Lamm in die Ecke getrieben und gestellt hat.
»Das war’s, du elendes Stück Scheiße. Einem
Deschemski entkommt man nicht, merk dir das.« Er packte meine
Handgelenke und riss mir die Arme nach vorn. Ich schrie vor Schmerz
auf.
    Da ertönte eine unsichtbare Stimme in der Kirche: »Lass
ihn los.« Es war eine Stimme, der man gehorchte. So musste es
gewesen sein, wenn die Heiligen die Stimme des Herrn vernahmen. Wer
hatte da gesprochen? Noch immer sah ich niemanden. Deschemski war in
seiner Bewegung festgefroren. Er ließ mich zwar nicht los, aber
er traute sich auch nicht, mir die Handschellen anzulegen. Dann sah
ich einen Schemen rechts von mir. Ich drehte den Kopf.
    Es war ein sehr großer Mann, der langsam, aber stetig
näher kam. »Ich sage es dir noch einmal, Hartmut
Deschemski. Lass den Mann los. Du weißt genau, dass du in
diesem Haus keine Befugnisse hast. Jedermann genießt bei Gott
Asyl.«
    »Der hier nicht!«, zischte Deschemski, aber er klang
nicht mehr sehr selbstsicher. Der Mann kam näher. Jetzt erkannte
ich, dass er einen schwarzen Anzug trug. Sein langes, bis auf den
Kragen herabwallendes Haar war schlohweiß. Es war
unmöglich, sein Alter zu schätzen.
    »Auch er, egal was er getan hat. Lass ihn los.« Diese
Stimme war schneidend wie ein Laserstrahl. Tatsächlich trat
Deschemski nun endlich von mir zurück. Woher kennt der Schwarze
ihn?, fragte ich mich. Jetzt war der Mann so nahe an uns beide
herangekommen, dass ich das kleine silberne Kreuz an seinem Revers
sehen konnte. Er musste der Pastor sein.
    »Aber ich kann ihn doch nicht einfach laufen lassen«,
beschwerte sich der Kommissar.
    Der Geistliche lächelte, faltete die Hände und legte den
Kopf schief. Es wirkte ungeheuer ironisch. »Das wirst du wohl
müssen, mein Sohn«, säuselte er. Dann setzte er
härter hinzu: »Und jetzt verschwinde. Wir sprechen uns
noch.«
    Deschemski trat einen Schritt von mir zurück und sagte zu dem
Geistlichen: »Ich werde draußen warten. Irgendwann wird er
ja herauskommen müssen. Und dann habe ich ihn.«
    Der Priester lächelte. »Das bleibt dir
unbenommen.«
    Deschemski trollte sich. Er warf einen letzten Blick zurück
und ging durch die Tür in den Vorraum. Kurz darauf hörte
ich, wie die schwere Seitentür zuschlug. Ich drehte mich dem
Geistlichen zu.

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