Somniferus
erste
menschliche Regung, die ich bei ihr bemerkte.
Wir mussten durch Manderscheid fahren, um Großlittgen zu
erreichen. »Legen Sie sich so flach hin wie möglich«,
kommandierte Lisa. »Das Haus meines Vaters wird bestimmt
bewacht.« Sofort duckte ich mich. Ihre Freundin fuhr jetzt
vorsichtig und vorschriftsmäßig. Ich hörte, wie Lisa
sagte: »Da drüben – dieser dunkle Mondeo. Ich wette,
da sitzen sie drin und warten auf mich.«
Ich spürte, wie wir an den Kreisel am Ceresplatz kamen und
nach rechts weiterfuhren. »Jetzt können Sie wieder
hochkommen«, sagte Lisa schließlich zu mir.
Ihre Freundin schaute immer wieder in den Rückspiegel.
»Sie haben uns nicht bemerkt«, sagte sie.
Wir fuhren an dem neuen Maarmuseum vorbei. Kurz dahinter stand
rechts an einer Tankstelle ein Polizeiwagen; wir konnten sehen, dass
sich die beiden Polizisten im hell erleuchteten Kassenraum der
Tankstelle mit dem Tankwart unterhielten. Rasch waren wir vorbei.
Niemand hatte uns bemerkt.
»Die sind ja wirklich so dämlich wie im Film«,
meinte Lisas Freundin.
»Unterschätz sie nicht«, hielt Lisa dagegen.
Jetzt führte die Straße tief in das Tal der kleinen
Kyll. Es war dieselbe Strecke, die ich bei meiner Anreise mit dem Bus
zurückgelegt hatte. Nun aber bewältigten wir die
Serpentinen in einem Bruchteil der Zeit, die der Bus benötigt
hatte. Die schwarzen Bäume flogen auf uns zu, wurden durch die
Scheinwerfer für einen Augenblick aus der Dunkelheit gerissen,
um gleich darauf wieder in ihr zu versinken. Tanz der Schwärze,
Tanz der Schatten. Alles, was von dem Wagen angestrahlt wurde, wirkte
krankbleich.
In Großlittgen bog Lisas Freundin nach rechts in Richtung
Himmerod ab, fuhr wieder aus dem Dorf hinaus und gab erneut Gas. In
meinem Mund machte sich ein bitterer Geschmack breit.
Bald tauchte rechts am Straßenrand ein einsames Haus auf, an
das der Wald sehr nahe herangekrochen war. Im Licht der Scheinwerfer
konnte ich ein großes Geweih an der Stirnwand des Gebäudes
erkennen. Lisas Freundin bremste heftig und der Wagen schlitterte von
der Straße in eine kurze, gepflasterte Einfahrt und kam zum
Stehen. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Lisas Freundin
beugte sich zu mir und sagte: »Hat die Fahrt etwa zu lange
gedauert? Tut nur Leid. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie
schneller ankommen wollten, wäre ich nicht so
geschlichen.«
* * *
Wir saßen im Wohnzimmer, das mit seiner altdeutschen
Einrichtung schlecht zu Lisas Freundin passte. Sie hatte einige
Flaschen Wein aus dem Keller geholt und wir versuchten, die
Aufregungen des Tages mit einer guten Spätlese nach der anderen
herunterzuspülen. Lisa erzählte noch einmal in allen
Einzelheiten unsere Erlebnisse und las ihrer Freundin die Stelle aus
Camerarius’ Enchiridion vor, die sich auf Somniferus
bezog, aber auch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Wir
versuchten, unsere kleinen grauen Zellen mit noch mehr Wein zu
stimulieren.
Irgendwann tief in der Nacht geschah etwas, das für mich
interessanter war als alle Rätsel um einen seltsamen
Götzen. Petra sagte mit schwerer Zunge zu mir: »Ich finde
dieses Durcheinander von Sie und Du blöde. Also, ich bin Petra.
Und auf was für einen Namen hörst du?«
»Ralf.« Ich prostete ihr und dann Lisa zu – mit
einem unerträglichen Kribbeln im Bauch. Sie hielt mir ihr Glas
entgegen und machte ein Gesicht, als habe sie eine Spinne
verschluckt.
»Na dann – Ralf«, sagte sie und lächelte
schwach; ich bildete mir ein, dass ihr der Name doch nicht so
schlecht schmeckte. Ich hätte Petra für ihren Vorschlag
küssen können und schaute sie dankbar an. Sofort wurde mir
mein Verhalten peinlich und ich kehrte zu meiner altbekannten roten
Farbe zurück, die sich unweigerlich bei solchen Anlässen
einstellte. Petras Augen brannten Löcher in mein Denken. Das war
keine Frau, das war ein Raubtier. Da war mir Lisas sanfteres Wesen
unendlich lieber.
Schließlich sagte Petra zu ihrer Freundin: »Reich mir
noch einmal das Buch herüber. Mir ist da eine Idee
gekommen.« Sie blätterte herum und las dann laut vor:
»Unnt schlimmer noch deucht es mich, dass die vielen frommen
Patres, wo täglich an jenem newen Bilde vorbeiliefen, es nit
bemercket, weil selbiges under so vielen anderen gleichsam
verschwandt. Unnd die Sonn scheinet durch unnd die Stern unnt sie
sehen es nit.« Sie machte eine Pause und runzelte die Stirn,
dann sagte sie: »Wißt ihr, woran mich das
erinnert?«
»Nun spann uns nicht so auf die
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