Song of the Slums
irgendwie hinter ihr zu liegen.
»Dein Haar!«, rief ihre Mutter aus.
»Mutter«, Astor ergriff Mrs Dorrins Hand und sah ihr in die Augen, »Lorrain Swale hat um meine Hand angehalten.«
»Aber … was … wann … ich dachte …?«
»Dieses Mal ist es wahr. Er hat mich heute gebeten, ihn zu heiraten.«
Darauf folgte eine lange Stille. Astor hatte erwartet, von Gratulationen überhäuft zu werden. Natürlich musste ihre Mutter bei diesem Happy End außer sich vor Freude sein; natürlich würde sie ihre Tochter dazu drängen, Lorrain zu heiraten.
Vielleicht bin ich hierher gekommen, damit ich gedrängt werde, dachte Astor.
Die Reaktion ihrer Mutter war jedoch ganz und gar nicht die, die Astor erwartet hatte. Mrs Dorrin gab ein kleines erstauntes »Oh!« von sich, und dann nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. »Aber liebst du ihn denn wirklich, Liebes?«
Astor war verblüfft. »Ich weiß es nicht.«
»Erzähl mir, was er gesagt hat. Erzähl mir alles.«
Doch bevor Astor antworten konnte, war aus einem der oberen Stockwerke eine Stimme zu hören. »Mrs Dorrin? Mrs Dorrin? Wo sind Sie?«
Astors Mutter spitzte die Lippen. »Dein Stiefvater«, sagte sie unnötigerweise. »Komm, wir suchen uns einen Platz, wo wir ungestört sind.«
• 70 •
Der Raum, in den sie sich zurückzogen, hatte keine Fenster; das einzige Licht drang durch die angelehnte Tür. Er war vollgestopft mit Trophäen, fast wie eine Rumpelkammer. Ausgestopfte Tierköpfe hingen an den Wänden, und die Hörner, Schnauzen und Geweihe warfen groteske Schatten. Es roch modrig und nach verstaubtem Fell.
Astor erzählte ihrer Mutter von Lorraines Besuch auf dem Dachgarten und davon, was sich in dem Erkerfenster zugetragen hatte, sie erzählte, was er gesagt hatte und wie er auf die Knie gegangen war, um um ihre Hand anzuhalten. »Ich glaube, er ist aufrichtig«, sagte sie zum Schluss. »Nein, ich bin mir sicher, dass er es ehrlich meint. Er ist ein guter Mensch.«
»Und sehr gutaussehend«, sagte Mrs Dorrin, die noch immer eher nachdenklich als freudig wirkte.
»Ist dies denn nicht, was du immer für mich gewollt hast?«, fragte Astor.
Die Antwort ihrer Mutter bestand aus einer weiteren Frage. »Du hast dich also entschieden, seinen Antrag anzunehmen?«
»Nein. Ich habe noch gar nichts entschieden. Aber ich dachte, du würdest dich freuen.«
»Nur wenn du ihn liebst. Tust du das?«
Astor gefiel dieses Verhör nicht. Es passte überhaupt nicht zu ihrer Mutter. »Warum sollte ich ihn denn nicht lieben?«
»Das ist keine Antwort, Liebes.«
»Ja, aber woher soll ich es denn genau wissen?«
»Wenn du es wirklich fühlst, weißt du es auch genau.«
Astor schüttelte den Kopf. »Zur Zeit gewöhne ich mich gerade an den Gedanken, dass
er mich
liebt. Liebe kann doch mit der Zeit noch wachsen? Man muss sich doch nicht Hals über Kopf verlieben?«
»Nein, wohl nicht unbedingt Hals über Kopf, denke ich mal. Aber da muss schon ein Funke überspringen.«
»Ein Funke?« Astor betrachtete in dem trüben Licht aufmerksam das Gesicht ihrer Mutter. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ganz im Gegensatz zu ihrer üblichen Nervosität stand. Jetzt wich Astors Widerstand der Neugierde. »Wie war es denn für dich? Wie hat es sich angefühlt, als du dich in meinen Vater verliebt hast?«
»Ach, das ist schon so lange her.«
»Aber du erinnerst dich doch noch, oder?«
»Natürlich, an jede Kleinigkeit. Es war bei einer Kammermusikdarbietung in einem privaten Salon. Ich saß in der ersten Reihe, und er war einer der fünf Musiker.«
Ihre Stimme war ganz sanft geworden. Sie machte eine Pause, und Astor wartete einfach ab.
»Er hatte etwas an sich, weißt du. Ich glaube, es war die Art, wie er sich ganz und gar auf seine Violine konzentrierte. Alle Musiker waren in ihr Spiel vertieft, aber keiner so sehr wie er. Es war einfach schön, ihn zu beobachten: wie seine Finger die Saiten herunterdrückten, wie er den Bogen führte und die Noten erklingen ließ. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich wollte – ich weiß eigentlich gar nicht, was ich wollte.«
Astor war gerührt. Sie hatte die romantische Ader ihrer Mutter immer mit Skepsis betrachtet, doch nachdem sie
dies
gehört hatte … Plötzlich huschte ein schelmisches Lächeln über das Gesicht ihrer Mutter.
»Ich muss ihn so angestarrt haben, dass er es gefühlt hat. Er blickte auf, unsere Augen trafen sich, und er ließ seinen Bogen fallen.« Ihre Mutter gab ein kaum bezähmbares glucksendes
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