Song of the Slums
Gedanke, den sie vorhin von sich geschoben hatte, kam wieder näher … und näher. Sie konnte sich ihm nicht länger entziehen. Es ging um ihr neues Leben … um den Nervenkitzel und die Aufregung … und es ging um die Person, die eigentlich im Zentrum all dieser Dinge stand. Einen Mann, der in allem das komplette Gegenteil von Lorrain war.
Sie sah ihn vor sich. Groß, schlank und langgliedrig … seinen spöttisch-mokanten Gesichtsausdruck … diesen lässigen gelenkigen Gang … die straffen Muskeln, unberechenbar und gefährlich, wie eine gespannte Feder, die jederzeit hervorschnellen kann.
Verrol.
Es traf sie wie ein Schlag in den Magen. Sie war in Verrol verliebt!
Kaum hatte sie den Gedanken zugelassen, wusste sie, dass er stimmte. Die unpassendste Person der ganzen Welt! Der allerletzte Mensch, in den sie sich hätte verlieben wollen! Es war vollkommen unmöglich und vollkommen unbestreitbar. Und es war schon seit einer ziemlich langen Zeit der Fall.
Sie fing an zu lachen: was für ein Zeitpunkt, um die größte Entdeckung ihres Lebens zu machen! Sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ihre einzigen Zeugen waren die ausgestopften Tierköpfe. Bei ihrer Mutter war der Funke während eines Musikkonzerts übergesprungen – aber bei ihr ausgerechnet in einem dunklen Raum, in dem sie wie eine Gefangene eingesperrt war. Und Verrol war nicht einmal in ihrer Nähe!
Alles, was sie hatte, waren ihre Erinnerungen. Und sie musste nicht lange suchen, bis ihr eine besonders vielsagende einfiel. Nur ein paar Stunden alt … der Augenblick, bevor sie ihn geohrfeigt hatte …
Meinst du, meine hätten sich geändert?
Sie war zu dem Zeitpunkt zu wütend gewesen, um zu verstehen. Sie hatte ihn angeschrien, von Lorrains Gefühlen berichtet, die sich ihr gegenüber nie geändert hätten, von dem Moment an, seitdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Und Verrol hatte geantwortet:
Ach was? Meinst du, meine hätten sich geändert?
Das war eine Liebeserklärung! Ohne Zärtlichkeit oder Höflichkeit, aber so unmissverständlich, als sei er auf die Knie gegangen. Eine wütende frustrierte Liebeserklärung … und sie hätte sie beinahe nicht verstanden!
Sie wischte sich die Lachtränen vom Gesicht. Natürlich würden sie Probleme haben – wie den Streit, die Band oder die drei vornehmen Ladys. Doch jetzt, in diesem Moment, schien alles wunderbar einfach. Eine Sache wenigstens hatte sie jetzt begriffen, und die anderen Probleme würden sich schon irgendwie lösen lassen.
Sie kuschelte sich mit einem warmen Gefühl der Zufriedenheit noch tiefer unter das Schaffell und schlief mit einem Lächeln im Gesicht ein.
• 72 •
Astor erwachte vom Geräusch des sich drehenden Schlüssels und sah ihre Mutter in der Tür stehen.
»Keine Sorge, Liebes. Dein Stiefvater hat das Haus schon verlassen.«
Astor reckte sich und setzte sich auf. »Dann ist es jetzt also in Ordnung, dass du mich frei lässt?«
Mrs Dorrin tat so, als habe sie den Sarkasmus nicht wahrgenommen. »Nein, es wird Ärger geben. Aber das hält mich nicht davon ab.«
Astor hörte die Resignation in der Stimme ihrer Mutter.
»Warum lässt du dir diesen Irrsinn gefallen?«
»Irrsinn? Ja, so kann man es vielleicht auch nennen. Er kann sich nicht helfen. Er ist besessen davon.«
»Seit wann?«
»Es ist immer schlimmer geworden. Vielleicht wegen seines Alters. Vielleicht liegt es an seiner Kriegsverletzung.«
»Wieso? Es war doch keine Kopfverletzung, oder? Ich dachte, es war der Brustkorb?«
»Ja, das ist richtig. Aber so habe ich das auch nicht gemeint.« Mrs Dorrin trat einen Schritt zurück. »Komm hinaus ins Licht.«
Astor stand auf und trat zu ihrer Mutter in den Korridor. Das Tageslicht war blass und grau, es blendete Astor aber nichtsdestoweniger.
Ihre Mutter legte eine Hand auf ihren Arm. »Er war wirklich ein echter Kriegsheld, Liebes. Ich habe mit Männern gesprochen, die unter seinem Kommando gedient haben, und sie verehren ihn. Damals wie heute. Er war ein sehr tapferer Mann, vollkommen furchtlos. Und ein großartiger General. Es ist tatsächlich seinem Einsatz zu verdanken, dass die Schlacht von Pressburg gewonnen wurde.«
»Bei der er verwundet wurde.«
»Genau. Und danach ist er auf eine Verwaltungsstelle abgeschoben worden, bis er vollständig genesen war. Und dort war er noch immer, als der Krieg drei Jahre später beendet wurde. Er hat also nie wieder gekämpft, Gott sei’s geklagt.«
Astor zuckte mit den
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