Song of the Slums
Ollifer vor.
»Ja.« Grannys Augenlider senkten sich, doch bevor der Song begann, blickte sie erneut hoch zur Band. Ihre Hand hob sich in einer schwachen Bewegung nur ein ganz klein wenig.
»Wartet. Ihr müsst mir etwas versprechen!«
»Alles.«
»Was immer du willst.«
»Ihr müsst mir versprechen, dass ihr niemals den Glauben an die Rowdys verliert.«
»Das würdest du doch gar nicht zulassen, Granny«, entgegnete Purdy.
»Ihr müsst versprechen, dass ihr selbst dafür sorgt, dass das nicht passiert. Wenn ich mal nicht mehr hier bin.«
Purdy schüttelte den Kopf. »Wir wollen aber, dass
du
dafür sorgst.«
»Ach, Purdy, du hast wirklich das Gemüt eines Engels.« Ein Lächeln vertiefte die Runzeln um Grannys Mundwinkel. »Nein, ich muss nicht mehr dafür sorgen. Nicht, wenn ihr mir euer Versprechen gebt.«
»Ich verspreche es«, sagte Astor. »Ich verspreche, dafür zu sorgen, dass deine Vision Wahrheit wird.«
Verrol gab dasselbe Versprechen, ebenso Mave und Ollifer und Purdy. Granny wartete, bis jedes einzelne Bandmitglied sein Versprechen abgegeben hatte, dann murmelte sie: »So. Jetzt kann nichts mehr schief gehen. Jetzt ist es so wahr, als wäre es schon geschehen …«
Völlig erschöpft lehnte sie ihren Kopf zurück, ihr Brustkorb hob und senkte sich. Die Band tauschte unsichere Blicke aus – bis sie sich erneut aufrichtete.
»Worauf wartet ihr denn noch? Los! Spielt! Laut, lauter, noch lauter und alle klatschen mit.«
»Eins, zwei, drei,
vier
«, zählte Verrol, und die Band riss die ersten Akkorde von
Made for Love
an.
So laut hatten sie noch niemals gespielt. Erst dominierte die Band, dann das Klatschen, dann wieder die Band. Hink war auf die Bühne gerannt und begann auf eine von Astors Drums zu schlagen; Verrol fiel mit seiner rauen Stimme brüllend in Ollifers Text ein; andere begleiteten lauthals wie ein Chor den Backbeat. Die Worte spielten kaum eine Rolle mehr, nur die Lautstärke. Der Song schwoll immer weiter an, ein ohrenbetäubendes Crescendo, das in einem Krachen endete und wie eine Welle verebbte. In der Ruhe, die folgte, drehten sich alle zu Granny Rouse. Zu Beginn hatte sie noch versucht mitzuklatschen, doch nun lag sie reglos da, mit weit offenen Augen und dem ruhigen starren Blick der Toten. Der letzte Ausdruck ihres Gesichts war ein Lächeln – ein vollkommen zufriedenes Lächeln.
• 46 •
Grannys Bestattung fand im Morgengrauen statt. Es gab einen bestimmten Platz in Slumtown, wo Bestattungen stattfanden, und eine bestimmte Familie, die Worrels, die für die Bestattungszeremonien zuständig war. Viele Mitglieder anderer Gangs waren erschienen, und so nahmen an die zweihundert Menschen an der Zeremonie teil.
Der Bestattungsplatz befand sich auf dem Gelände einer alten Mühle, wo sich ein Bach über einen Felsvorsprung in einen tiefer gelegenen runden Teich ergoss. Vier Meter hohe Felswände umgaben den Teich, außer an einer Stelle, wo das Wasser durch einen gemauerten Bogen in einen Tunnel strömte.
Im ersten Dämmerlicht des Tages konnten die Trauergäste, die von oben auf den Teich sahen, nur Dunkelheit erblicken. Sie hörten Wasser plätschern und die ruhigen Stimmen der Worrel-Familie. Doch Stück für Stück kroch das Licht der aufgehenden Sonne weiter nach unten und erhellte das Szenario. Nun wurden drei Boote sichtbar, die auf der schwarzen Wasserfläche dümpelten. Die Worrels saßen in den zwei größeren Booten, in der Mitte zwischen ihnen befand sich ein Kanu, in dem der Körper von Granny Rouse ruhte. Sie sah im Tod noch kleiner aus als im Leben und war von Kopf bis Fuß in teergetränkte Lumpen gewickelt.
Plötzlich schoss ein gelbes Flammenmeer aus dem Kanu hervor. Die Worrels stimmten einen tiefen Gesang an, der von den Felswänden widerhallte. Oben deckten die Trauergäste ihre Augen gegen den blendenden Feuerschein ab und fielen in den Gesang ein.
Die beiden größeren Boote verharrten an den Seiten, während das Kanu in die Mitte des Teichs trieb. Dort erfasste die Strömung das Boot und drehte es im Kreis. Die Flammen verzehrten Grannys Körper mit einem lauten Knistern und Knacken, als das Boot langsam dem Tunnel entgegentrieb.
Der Gesang war zu seinem Ende gekommen, doch in die einsetzende Stille drang ein anschwellender bebender Ton. Dies gehörte offenbar nicht zur gewöhnlichen Zeremonie, denn Astor beobachtete, wie viele der Anwesenden den Kopf drehten, um die Quelle des Tons auszumachen. Diese Quelle war Mave, die fünf Meter entfernt
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