Song of the Slums
konnte er sich nicht entspannen und einfach die Musik genießen.
Die neuen Songs, an denen sie arbeiteten, stammten beide von Mave. Eigene Stücke wurden zu einem immer größeren Teil ihres Repertoires. Während der nächste Auftritt näher rückte, arbeiteten sie daran, alle Songs soweit zu vervollkommnen, dass sie damit auftreten konnten.
Es war spätabends, am Ende einer langen Probensession, als Verrol Astor am Ellenbogen berührte.
»Können wir sprechen?«, fragte er.
»Ist gut«, sagte sie schulterzuckend. Die Band hatte zum Licht von drei Petroleumlampen gespielt, und eine davon trug Astor nun herbei. Sie stellte sie auf die flache Oberseite einer ihrer Blechdrums. »Also, sag schon!«
»Glaubst du, ich bin ein Feigling?«
»Ich weiß nicht, was du bist.«
»Du wolltest, dass ich gegen einen verletzten Mann kämpfe.«
»Es war seine Wahl. Er wollte gegen dich kämpfen.«
»Musste ich beweisen, dass ich ihn schlagen kann?«
»Nicht meinetwegen. Mir musst du gar nichts beweisen. Ich versteh dich eben einfach nicht, das ist alles.«
Sein üblicher süffisanter Gesichtsausdruck war ganz verschwunden. Er runzelte die Stirn und kaute auf seiner Lippe. »Es gibt nichts zu verstehen.«
Jetzt runzelte auch Astor die Stirn. »Du warst doch schon Diener auf Dorrin Estate, als meine Mutter und ich dorthin kamen, oder?«
»Ja. Ich erinnere mich an den Tag eurer Ankunft.«
Astor erwähnte lieber nicht, dass
sie
sich nicht an ihn damals erinnern konnte. »Wie lange hattest du dort schon gedient?«
»Vier Jahre.«
»Hat mein Stiefvater dich verpflichtet?«
»Nein, sein Hauptverwalter. Marshal Dorrin war zu der Zeit noch bei der Armee.«
»Und warst du davor Diener in einem anderen Haushalt?«
»Nein.«
»Ha. Das habe ich mir doch gedacht.«
Er starrte in den Schein der Petroleumlampe und sagte nichts.
»Was hast du denn gemacht?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein. Nur dass ich dir alles über meine Vergangenheit erzählt habe. Wenn du meinst, dass du mir dafür nichts zurückgeben musst …«
»Ich habe dich nicht darum gebeten, mir deine Geheimnisse anzuvertrauen.«
Astor sagte nichts mehr. Nach einer langen Pause sagte er: »Ich ziehe die Gegenwart vor. Ich bin heute ein besserer Mensch, als ich in der Vergangenheit war.«
»Du willst also etwas hinter dir lassen, richtig? Etwas, das dafür gesorgt hat, dass du nicht gegen Scarrow gekämpft hast. Etwas, weshalb du gegen Krieg und Gewalt bist.«
»Nicht gegen Scarrow zu kämpfen, war einfach gesunder Menschenverstand. Wenn ich ihm etwas angetan hätte, hätte er uns verfolgen müssen. Er hätte Rache nehmen müssen.«
»Nicht, wenn wir ihn erschossen hätten. Denn dich hätte er auf jeden Fall erschossen.«
»Dann hätte eben sein Zug Rache nehmen müssen. Indem ich ihn habe davonkommen lassen, habe ich ihm seinen Stolz gelassen.«
»Er hat dich angespuckt.«
»Mit ein bisschen Spuke komme ich schon zurecht. Für ihn hat uns das eher auf eine Ebene gebracht.«
»Und was ist mit
deinem
Stolz?«
»Meinem? Ich habe keinen.«
Sie betrachtete ihn sehr aufmerksam.
Das Licht der Petroleumlampe ließ seine Wangen eingefallen aussehen und seine Wangenknochen stärker hervortreten.
»Ich glaube dir nicht«, sagte sie. »Ich glaube, du bist einer der stolzesten Menschen, die ich je kennengelernt habe.«
Er blickte sie kurz an und sah dann wieder weg. Sie hatte ihn mit der Aussage überrascht, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie recht hatte.
»Aha, dann weißt du ja schon alles über mich.« Er versuchte es wegzulachen. »Ich gebe zu, dass ich sehr stolz darauf bin, bei den Rowdys mitzuspielen.«
Sie beließ es dabei. Was auch immer sein großes Geheimnis sein mochte, es war deutlich, dass er es nicht preisgeben wollte. Sie nahm die Petroleumlampe, und sie gingen zu ihrem Unterschlupf zurück, Seite an Seite, aber trotzdem nicht zusammen. Tatsächlich hatte sie sich niemals weiter entfernt von ihm gefühlt als gerade jetzt. Wie konnte er einerseits so stolz sein, und sich andererseits freiwillig so demütigen lassen? Er bestand aus lauter Widersprüchen: einerseits so schnell und andererseits so träge … so aggressiv und gleichzeitig passiv … Nein, er war einfach undurchschaubar. Sie konnte sich schlicht keinen Reim auf ihn machen.
• 45 •
»Kommt schnell!« Hink kam rufend aus dem Unterschlupf gelaufen. »Es geht um Granny!«
Die Gangmitglieder drehten sich erschrocken zu ihm um. In den letzten drei Tagen war Granny Rouse immer
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