Song of the Slums
denn sie hielten uns für zu jung, um eine Gefahr darzustellen, daher zielten ihre Gegenangriffe immer auf Erwachsene.«
Inzwischen blickte er Astor nicht mehr an, sondern starrte auf einen Punkt in der Luft irgendwo zwischen ihnen.
»Es war mein Team, das den Anführer ihrer Gang, Towey Maul, getötet hat. Wir hatten es ganz allein geplant. Zwei Wochen lang haben wir die Sache ausbaldowert. Das war die äußerste Rache, die wir nehmen konnten, aber wir haben uns dadurch jede Menge Probleme eingehandelt, denn von nun an wussten sie, wer wir waren, und die Mauls schworen, uns zu kriegen. Insbesondere mich.«
»Warum dich?«
»Weil ich den Schuss abgefeuert habe, der Towey getötet hat. Zwei Wochen später schickte mich meine Mutter aufs Land, zu ihren Verwandten im Norden Englands. Einfache anständige Leute. Dort sollte ich erst einmal bleiben, bis sich die Dinge wieder beruhigt hatten. So hatte sie es mir jedenfalls gesagt. Ich wartete und wartete darauf, wieder zurückbeordert zu werden, doch stattdessen brachten mich die Verwandten in Dorrin Estate unter, damit die Mauls, so sagten sie, mir nicht auf die Spur kommen konnten. Sie erklärten, die Lage in London sei schlimmer als jemals zuvor, und sie machten sich Sorgen um ihre eigene Sicherheit. Sie erzählten mir aber nicht, dass meine Mutter einem Rachekommando zum Opfer gefallen war.«
Seine Stimme war immer monotoner geworden. Als er wieder sprach, schien es, als müsse er sich von seinen Erinnerungen geradezu losreißen.
»Meine Mutter erzählte niemandem, wohin ich gebracht worden war, weißt du. Nicht einmal meinem Vater. Das Eden Street Massaker fand statt, als ich schon auf Dorrin Estate war, und ich habe damals nie davon erfahren.«
»Das war, als die Gangs sich gegenseitig ausgelöscht haben.«
»Es war wie ein Selbstmordkommando. Nach der Tötung meiner Mutter suchte mein Vater nach Freiwilligen, und die Starks gaben ihr Leben, um die Mauls zu vernichten. Achtundvierzig Leichen haben sie in der Eden Street gezählt. Die letzten Angehörigen unserer Familie und fast alle von denen.«
»Aber nicht du.«
»Ich hätte dabei sein sollen.«
Astor schüttelte den Kopf. Er schien, nach allem, was er berichtet hatte, einer anderen Spezies anzugehören. »Du fühlst dich schlecht, weil du nicht mit dem Rest deiner Familie ums Leben gekommen bist? Hast du dich denn nicht schlecht gefühlt, weil du Menschen kaltblütig umgebracht hast?«
»Damals oder heute?«
»Zum Beispiel, als du Towey Maul erschossen hast.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob kaltblütig stimmt. Damals herrschte Krieg, und die Mauls waren keine Unschuldslämmer. Wir haben nur Leute umgebracht, die versuchten, uns umzubringen. Niemand sonst war betroffen.«
»Doch!«
»Was?«
»
Ihr habt meinen Vater umgebracht!
«, brach es aus ihr heraus.
Er blickte sie verständnislos an. »Ich weiß nicht …«
»Mein Vater hat in seinem ganzen Leben niemandem etwas zuleide getan! Wir sind einfach nur spazierengegangen! Und da haben eure mörderischen Gangs das Feuer aufeinander eröffnet!«
»Er wurde von einem Querschläger getroffen?«
»Querschläger!« Astor spuckte dieses Wort geradezu hasserfüllt aus. »Genausogut hättet ihr auf ihn zugehen und mit der Pistole auf sein Herz zielen können. Denn tot war er am Ende so oder so.«
»Wann ist das passiert? Vielleicht war ich damals schon auf Dorrin Estate.«
»Es geht nicht darum, wer geschossen hat! Ihr wart alle verantwortlich! Eure ganze verdrehte kranke Art zu denken! Du hast es selbst gesagt! Eben gerade!
Ich war gut. Sehr gut sogar
, hast du gesagt!«
Sein Gesicht versteinerte, und ein Schleier legte sich über seine Augen. »Ich habe Scarrow nicht getötet«, sagte er.
»Warum nicht?« Astor zog eine Grimasse. »Für dich kommt es doch nicht auf einen mehr oder weniger an?«
»Ich habe dagegen gekämpft. Ich
habe
es unter Kontrolle.«
»Es? Was bedeutet
es
?«
»Ein kaltes, tödliches Gefühl«, sagte er. »Wie die Klinge eines Messers.«
»Der Killerinstinkt.«
»Ich habe es unter Kontrolle«, wiederholte er.
Astor drehte sich weg und starrte aus dem Fenster. Die Gleise verliefen nun unter dem Straßenniveau, und man konnte nichts sehen außer Brücken, die von Zeit zu Zeit über ihnen vorbeihuschten.
»Das kommt also dabei heraus, wenn man sich jemandem anvertraut«, sagte Verrol bitter. »Ich hab dir meine Vergangenheit erzählt, und ich bin nie auf die Idee gekommen, du hättest mir nicht alles
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