Songkran
letzten September oder Oktober?“
Noi nickte.
„Nein.“
„Hat das DSI Sie über das Verschwinden befragt?“
„Nein.“ Wan schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sicher? Kein DSI?“
„Glauben Sie mir. Es ist niemand zu mir gekommen und hat Fragen gestellt. Sie sind die erste.“ Wan schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist schon spät. Ich muss gehen.“
„Noch eine Minute bitte. Kennen Sie diese Frau?“ Noi holte den Farbdruck des unbekannten Mädchens aus ihrer Handtasche.
„Nein, ich habe diese Frau noch nie gesehen“, antwortete Wan nach einem wahrnehmbaren Zögern. Ihre Stimme war leise, kaum hörbar. Wan vermied Augenkontakt mit Noi und blickte zur Nachbarbank, auf der zwei Studenten Platz genommen hatten. Die Männer unterhielten sich und lachten. Wan erhob sich von ihrem Sitz.
„Falls Ihnen noch etwas einfällt. Hier ist die Karte meines Chefs, Inspektor Gun. Die junge Frau auf dem Foto schwebt in Lebensgefahr. Es wäre gut, wenn Inspektor Gun sie findet, bevor...“ Noi machte eine Pause.
„Bevor was?“, sprach aus Wans Augen. Frische Tränen traten unter ihren Brillengläsern hervor.
„…bevor sie das gleiche Schicksal erfährt wie Ukrist und die anderen beiden.“
Nachdenklich blickte Noi der sympathischen Wan nach, als diese sich in schnellen Schritten ihren Weg durch eine Gruppe von Studenten bahnte. Dann verschwand sie innerhalb eines mit Kunststoff überdachten Laubenganges, der zum Hauptgebäude des Campus führte.
Umgehend griff Noi zum Nokiahandy, suchte die programmierte Nummer von Guns Dienstapparat heraus und drückte die Sprechtaste. Sie erhob sich von der Holzbank und schlenderte über eine kleine Wiese, auf der winzige Buchsbäume in Form von Elefanten geschnitten waren. Gun meldete sich.
„Sir, ich habe mit Wan gesprochen“, begann sie.
„Sehr gut, Noi. Was haben Sie rausgefunden?“
„Ich bin mir sehr sicher, dass Wan die Unbekannte von dem Foto kennt. Sie leugnet zwar, aber sie hat geweint, als sie sich das Foto ansah. Ich habe ihr Ihre Karte gegeben, wie wir besprochen hatten. Vielleicht meldet sie sich bei Ihnen?“
Ein mulmiges Gefühl saß in Guns Magen. Er steckte mitten in einem mörderischen Spiel, dessen Regeln er nur ansatzweise durchschaute; geschweige denn, dass er die Mitspieler kannte. Nur ein Vollidiot hinterlässt da seine Visitenkarte.
„Und Sir, etwas ist komisch. Wan hat nie mit dem DSI gesprochen. Immerhin ist sie eine gute Freundin...“ Noi überlegte. „...eine sehr gute Freundin der Bombenlegerin und auch der anderen Drei. Hätte da nicht das DSI im letzten Oktober nachgefragt?“
„Merkwürdig, das DSI ist nie da, wo man es vermutet“, antwortete er mehr sich selbst, als dass er Nois Frage beantworten wollte.
„Wo sind Sie jetzt Noi?“
„Ich bin noch in der Thammasat.“
„Dann gehen Sie nach Hause. Wir sehen uns morgen im Büro. Und lassen Sie sich eine Taxiquittung geben, sonst spielt die Buchhaltung wieder verrückt.“ Gun legte den Hörer auf, bevor Noi irgendetwas erwidern konnte.
Kein ruhiger Tag für Inspektor Gun
Donnerstagmorgen
Guns Bauchschmerzen und Krämpfe im Magen-Darm-Trakt, die von seiner Visitenkarte in Wans Händen stammten, klangen langsam ab. Maßgeblichen Anteil an dieser Erholungsphase hatte der ruhige und stressfreie Mittwochnachmittag. Außer der Protokollierung eines Verkehrsunfalls ohne Personenschaden auf der Wirelessroad gab es keine nennenswerten Schreibarbeiten zu erledigen. So hatte Nois Fehlen ihre Kollegin Som nicht in Schwierigkeiten gebracht. Dass die Verbrechen und andere Katastrophen einen weiten Bogen um das Polizeirevier machten, gehörte zu den Ausnahmen. Der zerplatzte Schädel einer 45-jährigen Frau auf dem schmutzigen Asphalt der Sukhumvit Soi 8 unterstrich den Normalzustand. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
„Von hier ist sie runter gesprungen, Inspektor Gun. Sehen Sie?“
„Ja, wahrscheinlich.“ Gun beugte sich mit dem Oberkörper über das Geländer des Balkons, ohne das Metall zu berühren. Mit Entsetzen sah er den leblosen Körper der Frau am Boden liegen.
„Fassen Sie nichts an, die Spurensicherung muss den Balkon noch unter die Lupe nehmen“, sagte Gun zu dem jungen Polizisten, der erst seit wenigen Monaten zu seiner Mannschaft gehörte.
„Wann kam der Notruf rein?“, fragte Gun.
„Um halb zehn.“
„Vor einer halben Stunde also. Haben Sie den Brief angefasst?“
„Nein Sir!“
Gun stülpte sich Einweghandschuhe über, nahm das in der
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