Sonne, Schnee und Tote
ziemlich sicher, dass er dem gerade durch das Loch in der Wand
entwischenden Imar diesen Gefallen nicht tun wollte. Mehr noch, wenn er sich
jetzt umdrehte und sich den Weg zur Treppe bahnte, wäre er fort, bevor der Kerl
etwas dagegen tun konnte. Niandee würde ihn nicht aufhalten. Die Waffe musste
ihr Sekunden zuvor aus der Hand geglitten sein. Beide Hände an den Bauch
gepresst, flach atmend wankte sie zombiegleich auf die Luke zu.
Es
war Kees‘ Chance. Er nutzte sie nicht, blieb unentschlossen und rührte sich
nicht. Stattdessen schüttelte er den Kopf, schnappte sich das vor ihm
treibenden Papierknäuel und entfaltete es.
Mit
den besten Grüßen aus Mexiko ,
las er, runzelte die Stirn und kam nicht mehr dazu, sich einen Reim auf diese
Botschaft zu machen.
Einen
Wimpernschlag später riss ihn eine gewaltige Detonation von den Füßen und
schleuderte ihn zurück. Ein Feuerball schoss aus der Luke. Niandee wurde davon
erfasst. Stein und Stahl flogen durch die Luft. Die Druckwelle drückte Kees
nach unten. Er knallte hart mit dem Hinterkopf gegen die Paletten. Benommen
wirbelte er herum. Schwärze trat vor seine Augen.
Er
fand sich unter Wasser wieder, orientierungslos, panisch, mit deutlich zu wenig
Sauerstoff. Er strampelte, vor seinen Augen machte sich undurchsichtige braune
Substanz breit. Er konnte nichts sehen, rudertet wild mit den Armen, drehte
sich um die eigene Achse.
Wo
ist oben? Wo ist unten? Wo?
Seine
Lungen brannten, lechzten nach Luft. Er erstickte gerade. Die Unterdrückung des
Atemreflexes wurde unerträglich. Er riss die Augen weit auf. Sein Mund öffnete
sich von allein.
Endlich
berührten seine Finger den Boden. Er stellte die Füße auf, fand keinen Halt,
rutschte weg, versuchte es noch einmal, rutschte weg.
Sein
Hirn dachte nur noch ans Atmen, frische saubere, sauerstoffhaltige Luft.
Seine
Schuhe fanden endlich Halt auf dem überschwemmten Grund. Er stemmte sich hoch,
durchstieß die Oberfläche und schnappte nach Luft.
***
Die
Explosion hatte ein riesiges Loch in die Wand gerissen. Einige Flammen leckten
noch daraus empor. Die Grundmauern waren geschwärzt, aber das war Bloembergs
kleinstes Problem. Wassermassen schossen durch die geweitete Öffnung. Der Pegel
stieg. Von Imar schien nicht viel übrig geblieben zu sein, aber was war mit den
anderen? Bloemberg fuhr herum. Karim war halb von der Palette gerutscht, sein
Kopf und Oberkörper lagen noch darauf. Kees Blicke schossen weiter. Einige
Meter entfernt tauchte ein Haarschopf und Teile eines beigefarbenen
Sommermantels auf.
Niandee , schoss es Bloemberg durch den Kopf,
mehr spuckte sein Hirn nicht aus. Er funktionierte in diesem Moment nur noch.
Jede Handlung geschah instinktiv.
In
späteren Jahren, wenn er sich an diese Nacht zurückerinnerte oder von den
Bildern aus dem Schlaf gerissen wurde, war es ihm unmöglich zu sagen, wieso er
dies oder jenes getan hatte. Es steckten einfach keine schlüssigen Gedanken
dahinter.
Kees
kämpfte sich an lose herumtreibenden Trümmerteilen vorbei, schob ein
umgestürztes Regal aus dem Weg, stolperte über Holzpaletten hinüber zu der
leblos im Wasser treibenden Frau. Er zog sie zu sich, drehte sie um und
erlangte bittere Gewissheit. Das Gesicht rot und verbrannt, übersät mit
Schnittwunden, die Augen geschlossen, kein Anzeichen für Leben, nicht einmal
das kleinste Atmen. Kees Herz setzte für Sekundenbruchteile aus. Er hatte
keinen Grund, Mitleid oder Trauer zu empfinden. Sie hatte ihn belogen und sonst
wusste er nichts von ihr. Dennoch wollte er nicht akzeptieren, dass es so mit
ihr zu Ende ging. Niandee hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie war zu
jung, um an diesem trostlosen, schrecklichen Ort ihr Leben auszuhauchen. Kees
schleppte sie hinüber zu den Paletten und wuchtete ihren Körper darauf. Bei der
Aktion glitt der Rucksack in die trübe Brühe und verschwand. Kees machte sich
darum keine Gedanken. Das war in diesen Sekunden nebensächlich wie kaum etwas
anderes.
Der
Pegel stieg unaufhaltsam. Noch immer schossen Wassermassen durch das Loch in
der Wand. Bis zur Treppe waren es rund fünfzig Meter. Er hatte keine Zeit. Die
Lampen an der Decke flackerten. Kurz fürchtete Kees, sie könnten vollständig
erlöschen, aber zumindest in dieser Hinsicht verließ ihn sein Glück vorerst
nicht. Er starrte Niandee an, fixierte ihre Brust, erkannte dort keine
Bewegung.
„Bitte
nicht“, flehte er, beugte sich über sie, legte ein Ohr darauf und horchte.
Nichts .
Er
setzte den
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