Sonne, Schnee und Tote
den
Themen „Leichenfunde und Verwesung“ sowie „Insekten, lebende Indizien“ in den
Jahren seiner Polizeitätigkeit immer wieder vermittelt worden war, fuhr der
Schock in seine Glieder. Die Leiche hatte kurz gezuckt. Das war unmöglich, aber
er hatte es genau gesehen. Ihr Bein hatte sich bewegt. Instinktiv machte er
einen Schritt nach hinten. Als die Frau plötzlich ein Auge aufschlug und ihn
mit blutunterlaufenem Blick anstarrte, ereilte ihn ein grausiger Schauer, der
ihm den Rücken herunterlief und ihm für Sekunden den Atem raubte.
Es
war einer der Augenblicke, die er nie wieder vergessen sollte und der ihn in
den kommenden Jahren manchmal in seinen Träumen heimsuchte. Ein Augenblick, den
er bislang lediglich in brutalen Thrillern in Spätprogramm, etwa „Sieben“, aber
keineswegs in der realen Alltagswelt seiner Arbeit für möglich gehalten hätte.
Für einen
Moment unfähig irgendetwas zu tun oder zu sagen, starrte Kees einfach nur
zurück. Aufgrund solcher Begegnungen konnte man sich zweifelsohne dafür hassen,
Polizist geworden zu sein.
Kapitel 6
16:03 Feyeenoord, Karim
Abusifs Wohnung
„Die
Erstversorgung bei Dehydrierten ist das Wichtigste“, sagte der Notarzt, während
er sich die Handschuhe und den Atemschutz abstreifte und beides in einen
bereitstehenden Müllsack warf.
„Wenn
ein Körper zu viel Flüssigkeit verloren hat und der Natriumhaushalt ebenfalls
stark beeinträchtigt ist, muss intravenös ein Flüssigkeitsausgleich
stattfinden, aber der darf nicht zu schnell geschehen, andernfalls besteht
immer die Gefahr, dass Körperzellen dabei irreparabel zerstört werden.“
Er
war ein Mann im mittleren Alter, von schlanker Statur mit blondem Haar, einer
modernen rahmenlosen Brille auf der Nase und spitzem Kinnbart, der seinen
weichen Gesichtszügen auch nicht zu mehr Männlichkeit verhalf. Er seufzte.
„Ob
sie durchkommen wird, hängt von den nächsten Stunden ab. Ich schätze, sie ist
seit zwei Tagen komplett ohne Wasser und durch die übermäßigen Ausscheidungen
hat sich ihre Lage noch einmal verschlimmert ... Puh! Ich muss dringend an die
frische Luft.“
Ohne
ein weiteres Wort schob er sich an Bloemberg vorbei und ging hinaus ins
Treppenhaus.
Der
Inspecteur sah noch einmal ins Schlafzimmer.
Karim
Abusifs Großmutter war vor wenigen Minuten so weit stabilisiert worden, dass
man sie mithilfe einer Trage hatte abtransportieren können. Zurückgeblieben
waren nur der Gestank und die verschmutzten Laken. Um diese unschönen
Überbleibsel würde sich ein Reinigungsteam später am Tag kümmern.
Kees
warf noch einen kurzen Blick in Karims Zimmer. Darin herrschte eine alltägliche
Unordnung und allein ein an das Bett gelehnter Kontrabass sprang ins Auge. Es
deutete jedoch nichts darauf hin, dass jemand in aller Eile einige Sachen
zusammengerafft haben könnte, um zu verschwinden. So lag seine Kleidung
geordnet im Schrank und auf dem Nachttisch ein Taschenbuch mit einer finster
dreinblickenden Möwe auf dem Cover. Ein Lesezeichen war etwa in die Mitte des
Romans geschoben worden. Selbst ein Reisekoffer und eine Sporttasche standen
unangerührt in der Ecke. Weil Kees hier nichts Brauchbares fand, verließ er
endlich das muffige dunkle Appartement und folgte dem Arzt nach unten.
Bloemberg
holte ihn an der Eingangstür ein, wo er neben Niandee Nasingh stehen geblieben
war. Die junge Frau lehnte am Türrahmen und sog unruhig an einer Zigarette.
„Wird
sie es schaffen?“, fragte Niandee zwischen zwei Zügen und verschränkte dabei
eine Hand vor der Brust. Der Notarzt wiederholte die Worte, die er vorhin bei
Bloemberg bereits zum Besten gegeben hatte, dann fügte er noch an.
„Gibt
es irgendwelche Verwandte oder Bekannte, die wir verständigen können? Es wäre
gut, wenn jemand da wäre, sollte sie wieder vollkommen genesen.“
Niandee
zuckte mit den Schultern.
„Abgesehen
von Karim, ihrem Enkel, weiß ich von niemand“, gestand sie, warf die Zigarette
zu Boden und drückte sie mit dem Schuhabsatz aus.
„Und
wie kann man diesen Karim erreichen?“, fragte der Arzt. Niandee sah zuerst ihn
an und warf dann Inspecteur Bloemberg einen Hilfe suchenden Blick zu.
„Das
versuchen wir im Augenblick herauszufinden“, brummte der Inspektor und
antwortete damit an Niandees Stelle.
„Er
ist vermutlich seit Samstag verschwunden.“
Mit
der Antwort schien der Arzt alles andere als zufrieden zu sein.
„Das
hilft uns im Krankenhaus herzlich wenig. Wir brauchen unbedingt
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