Sonne, Sex und Meer
Der von Franz hieß Kelly. Er sah sehr viel menschlicher aus, wenn er seine blaue Jacke auszog und sich in seinem einfarbigen Sporthemd darunter präsentierte. Er wirkte niedergezogen von all dem Zeug, das an seinem Gürtel hing. Er füllte die Formulare fleißig und geduldig aus. In Franz’ Gruppe befand sich ein älterer Schüler, der orthodoxe Jude, mit dem er sich zuvor unterhalten hatte, Herausgeber einer wissenschaftlichen Zeitung, ein Schriftsteller (mittleres Alter, in Cordanzug und schweren Stiefeln, ein erfahrener Teilnehmer an Demonstrationen) und ein langhaariger, sehr gut aussehender Schauspieler.
Während der langen und langweiligen Prozedur, während all der Stunden, die sie in Zellen, auf Korridoren, in Gerichtssälen warteten, während der erregten Gespräche und der Späße, die nicht aufhörten, achtete Franz immer wieder auf Gilly. Von Zeit zu Zeit, während sie beide diesem komplizierten Prozess unterworfen waren, konnte er sie am anderen Ende eines Korridors sehen und bemerken, dass auch sie sich nach ihm umsah.
Acht Stunden später – eine Rekordzeit, wie die erfahrenen Teilnehmer an der Demonstration versicherten – konnte Franz den Gerichtssaal verlassen und wurde, wie alle anderen Demonstranten auch, gegen die Versicherung, zur Verhandlung zu erscheinen, auf freien Fuß gesetzt. Er hatte herausgefunden, in welchem Gerichtssaal sich die weiblichen Demonstranten aufhielten. Durch die breiten Marmorkorridore, die sich von den grünen Gängen des Criminal Court Building so sehr unterschieden, rannte er nach unten. Die Etage, nach der er suchte, war bis auf den Eingang zum Gerichtssaal völlig ausgestorben. Alle anderen Säle (vier oder fünf auf dieser Etage) waren leer. In der Nähe des einen, in dem die Untersuchung gegen die weiblichen Demonstranten lief, stand eine Gruppe schon Entlassener mit Freunden und Anhängern, die laut miteinander sprachen.
»Ist Gilly schon herausgekommen?«, fragte Franz herum. Niemand hatte sie herauskommen sehen, und er setzte sich deshalb in den Saal, um zu warten. Es war auch hier die gleiche Routineangelegenheit wie oben bei den Männern. Jedesmal wurde ein Schub von fünfen aufgerufen. Der Gerichtsdiener stellte sie, in der Reihenfolge, in der ihre Namen aufgerufen worden waren, von rechts nach links dem Richter gegenüber auf; der »arresting officer« stand rechts neben der Gruppe. Der Gerichtsdiener leierte die Anklagepunkte herunter, der Richter fragte jeden Beklagten nach Beruf und Adresse, machte ein kurzes rotziges Palaver und entließ die jeweilige Person.
Nach drei Schüben – und etwa einer dreiviertel Stunde – wurde Gilly mit aufgerufen. Sie stand an zweiter Stelle von rechts. Die erste war ein wunderhübsches blondes Hippiemädchen von etwa 30 mit Minirock und handgearbeiteten Schuhen. Franz spitzte die Ohren und hörte, dass die Blonde Lektorin im Random House Verlag war. Schließlich durften die fünf die Anklagebank verlassen. Gillys Augen suchten den Saal ab und fanden Franz, der in der zweiten Bankreihe saß (die erste war für Bullen reserviert). Als sie durch die Schwingtür kam, stand er auf und bahnte sich einen Weg nach draußen, nahm ihre Hand und drückte sie. Auch sie drückte seine Hand. Sie verließen den Gerichtssaal. Hatten die Arme gegenseitig um die Taille geschlungen. Rannten. Aufgeregt.
Während sie durch die Schwingtüren gingen, waren ihre Hände unter die Kleider gerutscht. Gillys Hand tastete sich hinten unter seinen Gürtel in die Hose, und seine glitt unter ihrem Pullover hinauf bis zur Brust. Sie bahnten sich ihren Weg durch die kleine Versammlung vor der Tür. Gilly winkte Freunden zu. Sie machten sich von aufgeregten Leuten frei, die mit ihnen sprechen wollten, nach ihren Namen fragten, ihnen Adressen von Versammlungen mitteilten, Hilfe vor Gericht anboten. Sie sahen sich im Korridor um und liefen, ohne ein Wort zu sagen, zu seinem hinteren dunklen Ende. Der Gang war in zwei deutlich unterschiedene Teile geteilt. So belebt und laut es an einem Ende war, so dunkel und verlassen war es am anderen. Der Korridor war so lang wie die ganze Seite des Gebäudes. Länger und breiter als ein Gehweg. Der seltsame Glanz von dunklem schmutzigen Marmor im schwachen Licht der Lampen. Eine dunkle Nische mit Telefonzellen. Muffig. Die Telefone waren nicht mehr zu benutzen. Von einigen hatte man den Hörer abgerissen. Sie quetschten sich in eine, deren Boden voll lag mit Zigarettenstummeln und Pappbechern. »Tu so, als ob du
Weitere Kostenlose Bücher