Sonne über Wahi-Koura
Louise von dem würzigen Duft abgelenkt. Obwohl ihr Vater Franzose war, hatte sie eine Schwäche für dieses Getränk entwickelt.
»Einer der besten Earl Greys, den man finden kann«, erklärte Amalia stolz, schüttete etwas Milch in ihre Tasse und gab ein Stück Kandiszucker dazu. »Dir liegt aber noch etwas anderes auf der Seele, oder?«
Louise setzte die Teetasse ab und schwieg.
»Hat es mit Laurent zu tun?«
Nachdem Amalia von Laurents Tod erfahren hatte, war sie unverzüglich zu Louise gefahren, damit die Freundin in ihrem Schmerz nicht allein blieb.
»Seine Frau ist gestern angekommen. Ich habe ihr ein Zimmer im Westflügel zugewiesen.«
»Das war sehr großherzig von dir.« Amalia betrachtete ihre Freundin prüfend. »Warum hast du sie nicht mitgebracht? Ich hätte sie gern kennengelernt.«
Soll ich etwa zugeben, dass ich vor Helena davongelaufen bin? Nein, entschied Louise und sagte: »Sie war noch nicht wach. Außerdem hat sie eine weite Reise hinter sich.«
Nervös führte Louise die Tasse an den Mund. Vielleicht hätte ich nicht von Helena erzählen sollen, dachte sie.
»Du hast dem Jungen noch immer nicht verziehen, nicht wahr?«
»Seine Frau ist schwanger«, wich Louise aus. »Ich werde Großmutter.«
»Wie schön! Das ist doch ein Grund zur Freude. Warum nur hört es sich bei dir an wie ein Trauerspiel?«
»Nach allem, was passiert ist, kann mich nichts mehr erfreuen. Ich habe Helena aufgenommen, weil sie in Not geraten ist. Und damit hat's sich.«
»Ach, Louise! Wenn das Kind erst einmal da ist, wirst du überglücklich sein, glaube mir.«
»Wir werden sehen«, brummte Louise unwirsch und stellte die Tasse wieder ab.
Seufzend legte Amalia eine faltige Hand auf die Rechte von Louise. »Meine Liebe, mit dem Enkelkind ist der Fortbestand deiner Familie gesichert, und vielleicht erinnert es dich eines Tages ein wenig an Laurent.«
Louise schüttelte abwehrend den Kopf. Ihr war ganz elend zumute. Die Trauer über den Tod ihres einzigen Sohnes nahm wieder von ihr Besitz. »Warum hat er sie bloß geheiratet? Ausgerechnet eine Winzerin! Manchmal frage ich mich, ob er mich damit ärgern wollte.«
»Ärgern? Ach, Louise! Nein, das hat bei seinen Überlegungen ganz bestimmt keine Rolle gespielt. Ich bin sicher, er hat sie geliebt.«
Louise erwiderte nichts, denn sie wollte nicht mit ihrer Freundin streiten. Amalia wirkte müder als bei ihren letzten Treffen, und der Gedanke, dass dieser Sommer für ihre Freundin der letzte sein könnte, bereitete ihr Unbehagen. »Ich habe deine Zeit schon viel zu lange beansprucht«, sagte sie sanft und erhob sich.
Amalia winkte ab. »Du hast mich davor bewahrt, einzuschlafen und schlecht zu träumen. Ich möchte dir einen Rat mit auf den Weg geben: Sei nett zu dem Mädchen, nicht dass du es noch vergraulst! Helena könnte es sich anders überlegen und mit deinem Enkel fortgehen. Je eher du Frieden mit ihr schließt, desto mehr Freude wirst du an dem Kind haben. Du kannst nicht ewig der Vergangenheit nachhängen.«
Vielleicht hat Amalia Recht, dachte Louise, als sie wieder in die Kutsche stieg. Wenn ich nur nicht solch eine Abneigung gegen diese Person hätte!
Eine Unterhaltung zwischen zwei Frauen, die auf dem Gehsteig miteinander plauderten, lenkte sie ab.
»Weiß man schon, wie sie gestorben ist?«
»Jemand hat ihr den Schädel eingeschlagen.«
»Wie furchtbar!«
»Und einen Verdächtigen haben sie auch schon. Er soll sich mit dem armen Ding gestritten haben, jedenfalls hat Jenny Grable das gehört.«
»Und wer ist der Bursche?«
»Einer von den Wilden, die für Mister McIntyre arbeiten. Joe heißt er.«
Louise fuhr zusammen. Ist das nur dummes Geschwätz, oder hat der Maori wirklich eine Frau erschlagen?, fragte sie sich entsetzt.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube ließ sie sich nach Hause kutschieren. Das Gehörte ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
4
Helena betrachtete fasziniert den Wairoa River, der sich in sanften Windungen durch das Tal schlängelte. Wunderschön, dachte sie. Wie ein funkelndes Juwelencollier auf grünem Samt. Was der Name des Flusses wohl bedeutet?
Von dem Felsvorsprung aus, auf dem sie saß, konnte Helena einen großen Teil des Tals überblicken. Schäfchenwolken zogen über den blauen Himmel, und über den grünen Hängen kreisten große Vögel, die fremdartige Laute ausstießen.
Warum wollte Laurent nur von hier fort? Es ist ein wahres Paradies - wenn man mal von Louises abweisender Art absieht, sinnierte
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