Sonnenfeuer
gewesen bist.«
»Danke«, erwiderte Kagari, immer noch wie betäubt. Über den Schrecken hatte sie das Gold ganz vergessen.
Schließlich umarmte sie ihre Mutter und die anderen, die sie traurig umringten. Der Abschied wurde jedoch von Meebal unterbrochen, der aufgeregt zu ihr eilte. »Du mußt gehen«, stieß er hervor. »Sie sagen, du bist ein böser Geist und hast dieses Unheil aus der Welt des Bösen mitgebracht. Beeil dich, oder sie werden dich töten!«
Kagari zögerte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um einen Streit anzufangen, aber wenn sie ohne ein Wort aufbrach, würde vielleicht Luka an ihrer Stelle bestraft werden. »Nein«, sagte sie so laut, daß alle es hören konnten. »Das ist nicht wahr. Ich gehe zu den guten Geistern, zu meinem Vater, um Hilfe für die guten Menschen dieses Stammes zu erflehen.« Sie hoffte, diese Behauptung würde ihre Mutter beschützen und die Stammesmitglieder so verunsichern, daß niemand wagen würde, Luka ein Haar zu krümmen.
Luka kreuzte stolz die Arme vor der Brust. »Hört ihr?« rief sie. »Meine Tochter wird für uns sprechen.«
»Komm weg hier«, zischte Meebal und packte Kagaris Arm. »Ich zeige dir den Weg.« So sicher wie ein Sehender führte der Blinde sie den Hügel hinab, durchwatete Wasserläufe und schob Gebüsch beiseite.
»Ich muß die großen Felsblöcke am Kreuzweg wiederfinden«, sagte sie zu ihm.
»Warum?«
»Dort liegen meine Kleider, die ich tragen muß.«
»Was für Kleider? Wozu mußt du sie anziehen?«
Müde schüttelte sie den Kopf. Sie waren schon den ganzen Tag unterwegs, und sie war zu erschöpft, um Erklärungen abzugeben. »Es ist notwendig«, sagte sie deshalb nur.
Endlich blieb Meebal stehen. »Hier halte ich mich oft auf«, erklärte er Kagari. »An dieser Stelle kann ich die Welt draußen sehen.«
»Sehen?« fragte sie zweifelnd. Sie befanden sich auf einem schroff abfallenden Felsgesims mit Blick auf die Küste.
»Ich spüre den Wind auf meinem Gesicht«, erwiderte er lächelnd, »und rieche das Meer. Nun kenne ich auch die Gerüche der weißen Lager und weiß, daß das Knallen, das ich manchmal höre, Gewehrfeuer ist. Diese Menschen kamen so schnell und in solch großer Zahl, daß unsere Krieger sie nicht aufhalten konnten. Aber dort oben sind wir sicher.«
Sie hoffte von ganzem Herzen, daß er recht behielt.
»Das ist mein Aussichtspunkt«, fuhr er fort. »Dort unten sind die Steine, bei denen wir als Kinder gespielt haben. Wenn du zurückkommst, rufe an dieser Stelle nach mir. Alles spricht zu mir. Ich werde es wissen, wenn du da bist.« Er streichelte ihre Wange.
»Ich werde es erleben, daß du noch einmal kommst. Und später wirst du wegen der gelben Steine wiederkommen. Ihr Zauber wird dich beschützen, nicht wahr?«
»Ja, Meebal, so ist es. Du bist sehr weise, und ich bin glücklich, daß ich dich wiedergefunden habe. Ich bin stolz auf meinen Bruder.«
5
A ls Chin Ying aus seinem Zelt trat, fiel sein Blick auf einen Schwarm schwarzgefiederter Currawongs, die mit wütendem Kreischen die weißen Kakadus von ihren Bäumen vertrieben. Seufzend murmelte er: »Das ist der Lauf der Welt.«
Immer wieder stürzten sich die Vögel in wahrem Todesmut herab, bis die Kakadus schließlich unter lautem Protest das Weite suchten.
Als die Currawongs sich triumphierend auf den Ästen niederließen, richtete Chin Ying seine Aufmerksamkeit wieder auf die Erde.
Sie hatten die Bergkette im Norden umrundet, sich dann nach Südwesten gewandt und waren auf die Ebene gekommen. Vom Palmer trennten sie jetzt nur noch ungefähr achtzig Kilometer, doch auf dem flachen Land mußten sie mit weiteren Angriffen der wilden Schwarzen rechnen. Das letzte Wegstück würde also kein Zuckerschlecken werden.
Ying erwog allen Ernstes, Lew vorzuschlagen, die Pferde zu besteigen und um ihr Leben zu reiten, während die Kulis unter der Aufsicht der Yuang-Brüder nachkamen. Doch er wußte, Lew würde sich weigern.
Dieser war noch immer nicht über das Schicksal der beiden Kulis hinweggekommen, die sie, aufgehängt an ihren Zöpfen, an einem Baum vorgefunden hatten. Ihnen fehlten einzelne Gliedmaßen, und klaffende Wunden wiesen darauf hin, daß ihnen große Fleischstücke vom Körper abgetrennt worden waren. Er hatte den Vorfall in seinem Tagebuch verzeichnet, zusammen mit einigen allgemeinen Betrachtungen über den Kannibalismus.
Am letzten Abend waren sie auf einige Reiter gestoßen, die vom Palmer kamen. Es waren anständige Männer, die ihre
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