Sonnenfinsternis: Kriminalroman
verstohlenen Blick zu. Dann antworte te Katalin Gyurcsány, während ihr Mann die Decke studierte: «Wissen Sie, wir haben nicht mehr so viel zu tun. Ich schaue oft aus dem Fenster und beobachte die Leute.»
«Okay» Ich lächelte sie aufmunternd an, machte mir einige Notizen und fuhr dann fort: «Nun, wegen dieser Stiefel und den engen Hosen und der kurzen Windjacke, die Sie erwähnt haben… Wie genau sehen die denn aus?»
Ihre Beschreibung überzeugt e mich davon , dass sie von Röhren jeans, Springer stiefeln und einer Bomberjacke sprach en , und mir däm merte allmählich etwas. «Eine Frage: Welche Haarfarbe hat Sarahs Bruder?»
«Das weiss ich nicht», antwortete István Gyurcsány, «er trägt eine Glatze.»
Bingo!Ich notierte mir auch diese Information und unterstrich sie dick. Dann kam ich auf den eigentlichen Grund meines Besuchs zurück. « Schön und gut . Und was können Sie mir nun über Sarah selbst sagen?»
Es stellte sich heraus, dass Sarah Rappolder sechsundzwanzig Jahre alt und unverheiratet war, seit drei Jahren in diesem Mietshaus wohnte und an der Universität Zürich studierte. Und sie war politisch aktiv.
«Welche Partei?»
Katalin Gyurcsány überlegte kurz. «Das weiss ich leider nicht. Ich interessiere mich nicht mehr so für Politik.»
«Wissen sie denn, was Sie studiert?»
«Psychologie. Oder vielleicht Soziologie.» Sie machte eine hilflose Hand be we gung. «Oder vielleicht Geologie? Es war auf jeden Fall irgendwas mit - logie am Schluss.»
«Hatte sie oft Männerbesuch?»
«Aber wo denken sie hin, Herr Steiner!» Sie blickte mich missbilli gend an. «Sarah ist ein anständiges Mädchen! Nur ihr Bruder hat früher ab und zu bei ihr übernachtet. Und im Frühling hatte sie eine Zeit lang oft Besuch von diesem Mann, dem sie Deutsch beigebracht hat. Aber das hat schon vor einiger Zeit wieder aufgehört. Er war wohl ein guter Schüler.»
Deutschunterricht? Am Abend?Das wollte ich genauer wissen.«Seit wann genau kommt er denn nicht mehr her?»
«Oh, ich weiss nicht… sicher ein paar Monate. Warten Sie, ich glaube, das war kurz, bevor unsere Enkel diesen Sommer bei uns in den Ferien waren.» Sie überlegte angestrengt und bewegte dabei lautlos den Mund. «Ich weiss nicht mehr…»
Ihr Mann half ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. «Die Kinder waren in der letzten Juliwoche hier .»
Ich war innerlich wie elektrisiert, liess mir aber nichts anmerken. «Wie sah der Mann denn aus?»
«Also, er war grösser als ich. Aber nicht so gross wie Sie, Herr Steiner. Etwa so wie mein István, aber drahtig. Er sah immer traurig aus, und er hatte eines dieser Bärtchen…?» Sie fasste sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an beide Mundwinkel und fuhr dann mit den Fingern zum Kinn hinunter, um die Form des Kinnbartes anzuzeigen.
Ihr Mann ergänzte: «Ja, genau. Und kurze schwarze Haare und eine gebräunte Haut. Nicht so wie ein Afrikaner, aber dunkler als Sie und ich. Ich glaube, er war Italiener. Oder vielleicht Spanier. Ich habe ihn nie sprechen gehört, aber er sah danach aus.»
«Woher wissen Sie, dass Sarah ihm Deutsch beigebracht hat?»
«Oh, sie hat es mir erzählt. Wissen sie, ich unterhalte mich gerne mit der Kleinen.»
«Und können Sie auch sagen, wann er jeweils gekommen und gegan gen ist?»
Beide nickte n eifrig , und die alte Dame meinte: «Also, gekommen ist er meistens etwa, wenn wir gerade mit dem Nachtessen fertig waren. Also so etwa um sieben. Und gegangen ist er immer so um neun, halb zehn.» Sie wechselte einen kurzen Blick mit ihrem schweigenden Mann, machte ein verlegenes Gesicht und zuckte mit den Achseln. Dann erklärte sie entschuldigend: «Ich habe mir am Anfang ein wenig Sorgen wegen der kleinen Sarah gemacht und darum immer genau aufgepasst, wann er wieder gegangen ist. Er ist immer zur Tür heraus und dann nach links Richtung Kirchenackerweg weggegangen und dort um die Ecke gebogen. Er wollte wohl zur Tramhaltestelle beim Berninaplatz oder so.»
Ich nickte. «Um welche Zeit gehen Sie beide denn so zu Bett?»
« Oh, ich glaube, m eistens zwischen zehn und halb elf.»
Plötzlich kam mir ein Nachg edanke. «Gibt es hier vielleicht einen Hinter ein gang zum Haus?»
István Gyurcsány antwortete: «Ja, den gibt es. Möchten Sie ihn sehen?»
«Ja, gerne. Nur so der Vollständigkeit halber.»
Nach der Besichtigung des Hintereingangs, welcher vom Innenhof in die Wasch küche führte, war ich überzeugt, dass es ohne weiteres möglich war, auf
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