Sonnenfinsternis: Kriminalroman
Job. Wenn ich ihn tatsächlich aufgeschreckt hatte, dann war es durchaus realistisch, dass er nicht vor dem Feierabend einen Kriegsrat einberufen würde. Oder konnte. Schliesslich hatten die fünf Kerle in der Tiefgarage bereits für ihre morgendliche Einlage am Arbeitsplatz gefehlt . Das war auch der Hauptg rund dafür , weshalb ich die berechtigte Hoffnung hegte , dass ein allfälliges Treffen in Rappolders Wohnung stattfinden würde. Sie war einfacher zugänglich als die Waldhütte. Ausserdem rechneten sie heute kaum nochmals mir.
Ich spülte zwei weitere Schmerztabletten mit einem Glas Wasser hinunter, wechselte das Pflaster an meiner Schläfe, zog meine dicke schwarze Winterjacke mit dem verklumpten Daunenfutter an und machte mich auf den Weg.
Es war halb acht, bereits stockdunkel und eindeutig zu kalt für die Jahreszeit. Zum Glück hatte ich mich warm angezogen. Die Heizung meines Wagens konnte ich nicht einschalten, da diese nur bei laufendem Motor funktionierte. Und ein laufender Motor erregt Aufmerksamkeit. Ebenso konnte ich die Fenster nicht völlig schliessen, da die Scheiben sonst von innen beschlagen hätten.
Nun sass ich also bereits seit rund neunzig Minuten auf dem kleinen Parkplatz hinter einem Beton-und-Ziegel-Mietshaus aus den Siebziger jahren, im Schutz einer riesige n Eiche und einiger nur noch spärlich belaubter Büsche. Ich hatte diesen Standort gewählt, weil ich von hier aus direkte Sicht auf Rappolders Balkon und Wohnzimmerfenster hatte und die Distanz nicht zu gross für mein Richtmikrofon war.
Rappolder schien noch nicht zu Hause zu sein, aber die Familie im Stockwerk darunter konnte ich beim Testen meines Richtmikros dabei belauschen, wie die Eltern ein erregtes Gespräch über die Noten ihres Sohnes führten. Armer Kerl.
Die Minuten tickten zäh vor sich hin. Trotz der dicken Winterjacke fror ich erbärmlich, und da ich kein Licht anmachen konnte, leerte ich mir zweimal verdammt heissen Kaffee auf die Jeans beim Versuch, mich etwas aufzuwärmen . Ich versuchte alles, um mich abzulenken. In meinem Kopf stellte ich Top-Ten-Listen zusammen: Frauen, mit denen ich geschlafen hatte; Verbrecher, die ich verhaftet hatte; Filme, die ich mehrfach gesehen hatte. Und so weiter.
Nach weiteren zwei Stunden begann ich ernsthaft daran zu zweifeln, dass mein Plan funktionierte. Ich war beinahe steifgefroren und überlegte mir gerade zum hundertsten Mal, die Sache sein zu lassen und nach Hause zu einer heissen Dusche und einem kühlen Bier zu fahren, als plötzlich Licht in Rappolders Wohnung anging. Endlich, verflucht nochmal!
Ich schaute auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr achtundvierzig. Ge räusch los kurbelte ich das Fenster auf meiner Seite des Wagens herunter. Dann brachte ich das Richtmikrofon samt bereits angeschlos se nem Digitalrekorder in Stellung und setzte die Kopfhörer auf. Nach Herstellerangaben hatte mein Richtmikro eine Reichweite von bis zu achtzig Metern. Das war allerdings in direkter Linie und ohne Hindernisse dazwischen, also entweder unter freiem Himmel oder im gleichen Raum. Ein Hindernis wie zum Beispiel ein Fenster verringerte die Hörleistung deutlich, was leider auch jetzt der Fall war. Die Distanz von etwa fünfzig bis sechzig Metern schien bei geschlossenem Fenster eindeutig zu viel zu sein. Ich konnte zwar Stimmen hören, aber nur sehr leise und undeutlich. Trotzdem zeichnete ich alles auf. Vielleicht konnte ich später am Computer noch mehr aus der Aufnahme herausholen.
Ich nahm das Fernglas zur Hand. Das Geländer an Rappolders Bal kon ver deck te zwar rund die Hälfte der grossen Wohnzimmer fenster, aber der Rest reich te aus, um die Gesichter der Männer dahinter zu erkennen. Es waren drei, und ich hatte sie heute alle schon einmal gesehen: Rappolder, der narben ge sichti ge Mar kus und der Kerl mit dem Base ball schläger , aus dessen Eiern meine Faust heute Mor gen ein Ome lette gemacht hatte. Rappolder trug nun einen dunklen Anzug, die anderen beiden hatten Sweatshirts mit dem Aufdruck CONSDAPLE an.
Ich schaute ihnen eine Weile zu, aber es gab nichts zu sehen. Also legte ich mein Fernglas wieder zur Seite und konzentrierte mich auf das Gemurmel in meinen Kopfhörern. Es war leider immer noch so leise und undeutlich, dass ich absolut nichts verstand. Das blieb auch noch eine ganze Weile so, und meine Frustration wuchs stetig, bis mir irgendwann indirekt die Hausverwaltung zu Hilfe kam. Im Kopfhörer hörte ich ein bekanntes Geräusch . Ich griff nach dem
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