Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
es gewohnt war. Die Bäume waren groß und kahl, die ersten fünfzehn Meter oder mehr ohne Äste oder Laub, und verbreiterten sich dann in üppigen Kronen. Darunter schlangen sich Blüten um die Stämme und andere Gewächse schienen auf Schlingpflanzen und Rinde Halt gefunden zu haben. Einige der Blätter kamen ihm aus dem Norden entfernt vertraut vor, waren aber viel fleischiger und hatten einen wächsernen Überzug.
Er hatte ein komisches Gefühl im Magen. Er hatte dies alles schon einmal gesehen, vorhin im Gebäude der Menschen. Und die fremden Sterne, die erdrückende Hitze, alles passte. Leise sprach er das Wort aus, als befürchtete er, ihm zu viel Gewicht zu geben:
„Dschungel.“ – Die Menschen hatten sie in Goths Heimat abgeworfen.
Nach der Wärme des Waldes war die Winternacht schneidend kalt und Marina spürte, wie alle Entschlusskraft, alle Energie aus ihr entwich. Sie blickte schaudernd zum Gebäude der Menschen zurück. Was wäre, wenn Arkadia Recht hatte? Was wäre, wenn die Menschen sie tatsächlich auf eine glorreiche Zukunft vorbereiteten und sie alles furchtbar falsch verstanden hatte? Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken: Nein, sie hatte gesehen, was sie den Fledermäusen antaten, wie sie diese wie wertlose Gegenstände behandelten. Das war nicht in Ordnung.
Als sie eine kleine Gruppe Kiefern erreicht hatten, ordnete Frieda eine Pause an und sie ließen sich nahe beieinander nieder. Marina schmiegte sich an Ariel, um sich zu wärmen.
„Wir müssen alle entscheiden, was wir tun wollen“, sagte Frieda, „und zwar schnell.“
Marina betrachtete die kleine Gruppe. Außer Frieda, Ariel und ihr selbst waren es nur sechs andere und sie sahen allesamt genauso kalt und ängstlich aus wie sie selber.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, sagte Frieda: „Jeder, der zurück will in den Wald, kann das tun. Ich halte euch nicht. Ihr müsst tun, was ihr für richtig haltet.“
Ein Männchen namens Windstoß ruckte verlegen hin und her. „Warum fliegen wir nicht zum Hibernaculum zurück?“
Für einen Augenblick hing die Frage wie eine Versuchung in der Luft. Marina spürte ihre einlullende Wärme. In die Sicherheit der Höhle hinter dem Wasserfall zurückzukehren, die Flügel zusammenzufalten, zu schlafen und alles bis zum Frühjahr zu vergessen ...
„Schatten“, sagte sie. „Ich habe gesehen, in welche Richtung die Flugmaschine geflogen ist. Süd-Südost. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen.“
Sie blickte Ariel an, während sie sprach, und sah, wie deren Augen ihren eigenen Kummer spiegelten.
„Dieses Flugzeug könnte inzwischen Millionen von Flügelschlägen weit sein“, sagte Frieda liebevoll. „Und es könnte seinen Kurs geändert haben.“
„Ich hätte an Bord gehen sollen“, sagte Marina bitter. „Ich hätte das auch getan, wenn ich ... mutiger wäre.“
„Dann wärst du nicht in der Lage gewesen uns zu warnen“, erinnerte sie Ariel sanft.
Die liebevollen Worte trieben Marina Tränen in die Augen. Ariel umfing sie mit den Flügeln. „Ich weiß“, sagte sie tröstend. „Ich weiß. Ich habe viel Erfahrung mit Männern, die irgendwo hinfliegen, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich gewöhne mich sogar daran.“
Marina lächelte dankbar, dann hustete sie und wischte ihre letzten Tränen mit dem Unterarm weg.
„Ich meine, das Hibernaculum sollte unser Ziel sein“, sagte Windstoß. „Es tut mir Leid, Ariel, um deinen Sohn und all die anderen, aber Frieda hat Recht. Diese Flugmaschine könnte überall hinfliegen und schneller als wir. Wie könnten wir nur hoffen, sie zu finden? Und wenn wir sie fänden, woher wissen wir, dass wir helfen könnten?“
„Du hast Recht, wir wissen es nicht“, sagte Ariel. „Aber ich habe meinen Gefährten verloren und meinen Sohn zum zweiten Mal. Beim ersten Mal habe ich ihn für tot aufgegeben. Aber nicht noch einmal. Ihr kehrt zurück ins Hibernaculum, aber ich folge dieser Flugmaschine.“
„Ich auch“, sagte Marina. Sie hatte schon einmal ihre Familie verloren und sie würde alles tun, was sie konnte, um zu verhindern, dass es ein zweites Mal passierte. Durch ihren Kopf zuckten Schuldgefühle. Warum war sie nicht in die Flugmaschine hineingegangen? Sie flog schnell. Eine Million Flügelschläge in der Nacht ... und wer wusste, wie weit sie fliegen würde. Aber wenigstens müsste sie jetzt nicht allein auf die Reise gehen.
„Für mich könnte eure Reise zu lang werden“, sagte Frieda, „aber ich werde mitkommen, bis meine Flügel
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