Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
Neugeborenes ohne Fell, rosa und zitternd.
Er gab seine Täuschung auf, streifte sie ab wie eine Schlangenhaut und ließ sie in der Luft hängen, wo sie in sich zusammenfiel. Er machte sich davon und hoffte, dass er in dem Durcheinander genug Zeit haben würde, ein Versteck zu finden.
Um dann zurückzukehren und seinen Vater zu holen.
Wütend schlug Goth auf den glänzenden Leichnam ein, der noch in der Luft hing, ein groteskes Double seiner selbst. Mit schnappenden Kiefern zerschmetterte er den Kopf und ließ ihn in eine Million winziger Echos zersplittern.
Er wirbelte rechtzeitig herum, um den kleinen Silberflügel zur Decke jagen zu sehen.
Schatten!
Irgendwie hatte er instinktiv gewusst, dass er es sein musste, derselbe missgestaltete Unruhestifter, der ihn mit Unglück verfolgt hatte, seit er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Eine Welt von Unheil im Körper eines Knirpses verpackt. Aber jetzt nicht mehr lange.
Goth stach mit Klang in die Luft und fing Schatten mit seinem inneren Auge ein, dort, wo er sich in einen Spalt in der Decke quetschte und glaubte, er wäre verborgen und sicher, um mit Klängen weitere Tricks zu machen. Der Silberflügel wandte ihm den Rücken zu und mit drei Flügelschlägen war Goth bei ihm.
Bevor Schatten auch nur Zeit gehabt hatte den Kopf umzudrehen, schlug ihm Goth seine Klauen tief zwischen die Schulterblätter. Er warf sich vor, schloss die Kiefer um Schattens Hals und biss so tief, dass die Zähne schmerzhaft aufeinander schlugen. Er kaute wild und wartete auf das Vergnügen, lebendes Fledermausfleisch zu schmecken, aber der Geschmack blieb aus.
Es gab überhaupt keinen Geschmack.
Zum zweiten Mal biss er reißend zu und dann ein drittes Mal, bevor er merkte, dass er Luft zerriss statt Fleisch und er sein Maul mit nichts füllte. Voll Zorn und Wut zuckte er zurück und sah die sich auflösenden Reste einer weiteren Klangtäuschung.
„Schatten!“, brüllte Goth und wirbelte wütend herum.
Mit wunder Kehle spann sich Schatten einen zerfetzten Mantel der Unsichtbarkeit und landete bei seinem Vater. Cassiel schleppte sich mühselig über den Heiligen Stein zu seinem Rand, ohne dass ihn die verbliebenen, für einen Augenblick abgelenkten Wachen bemerkten. Den Bruchteil einer Sekunde lang schien für Schatten alles andere im Raum ausgelöscht, als er zum ersten Mal im Leben seinen Vater betrachtete. Dies war also sein Vater, dieses ausgemergelte, gebrochene Geschöpf. Er hätte eigentlich nicht überrascht sein dürfen ihn so mitgenommen zu sehen, aber er war es. Nach all den Geschichten, nach all seinen Fantasien hatte er seinen Vater zu einem unbezwingbaren Helden aufgebaut. Und ihn nun auf diesem Stein ausgestreckt zu sehen, abgemagert und hilflos ... Schatten kroch näher heran. Der Geruch seines Vaters war streng, nach Tagen ohne Nahrung und Schlaf, nach Tagen ohne Pflege. Aber darunter war ein Geruch so vertraut und tröstlich wie nur irgendeiner auf der Welt. Er roch nach Zu Hause.
Cassiel musste etwas in seiner Nähe gespürt haben, denn er warf sich herum, bleckte die Zähne und zischte. Schatten machte alarmiert einen Schritt zurück und dann ließ er, nur für einen Augenblick, seine Echotäuschung verfliegen und gestattete seinem Vater einen Blick auf ihn. Nicht dass er ihn erkannte – wie konnte er auch, er hatte ihn noch nie gesehen. Aber Schatten sah, wie sein Vater verwirrt die Stirn runzelte und den drohenden Mund schloss.
Dann hüllte sich Schatten wieder in sein Tarnkleid, aber diesmal warf er den Klang auch über seinen Vater, sodass sie für alle unsichtbar waren außer für einander. Schatten konnte hören, wie oben Goth herumpreschte und ihn suchte und seinen Wachen Befehle zuschrie. Er wusste, sie hatten nicht viel Zeit. Schon konnte er den Wind des Cama Zotz durch den Raum schlürfen hören auf der Suche nach ihm, um ihm die Tarnung wegzureißen.
„Du kannst nicht fliegen?“, flüsterte Schatten. Sein Vater schüttelte den Kopf. „Mein Flügel.“
Schatten sah die Schwellung unter der Membrane und erkannte, dass sein Unterarm böse verstaucht war. Schatten verfluchte sich. Was für ein Narr war er doch. Er war hierher gekommen und was hatte er erwartet? Sie alle zu retten. Und nun war er ohne Hilfe und sie würden beide hier sterben.
„Wer bist du?“, fragte sein Vater heiser. „Habe ich dich schon einmal ...“
„Nein.“
„Ich kenne dich.“
„Nein.“
„Wer bist du dann?“
„Ich bin dein Sohn.“
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„Schatten?“,
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