Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
Inneres eine Uhr geworden, die die Sekunden der Sonnenfinsternis zählte. Vierhundertundfünfzig Sekunden ... vierhundertundfünfundzwanzig ...
Sie hatten erst acht Herzen geopfert, bevor der Echogeier die Wachen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Und nun sah Voxzaco über sich zwei Exemplare von Goth einander über dem Heiligen Stein umkreisen und dutzende von Wächtern, die sich zurückhielten und sich bemühten zu erkennen, wer von den beiden der wahre König war, und nicht wagten, ihre Krallen in einen von ihnen zu schlagen.
Zeit, Zeit, die Sekunden verrannen und es würde nicht genügend Zeit bleiben.
Im Tempel herrschte ein völliges Durcheinander. Die Wachen hatten Angst, einige hatten schon ganz ihren Platz verlassen.
Eines war Voxzaco klar: Sie würden jetzt niemals in der Lage sein Zotz die verbleibenden hundert Herzen zu opfern. Sie hatten zu viel Zeit verloren. Und zu viele von ihren Opfern waren entkommen. Er hatte sie fliehen sehen, während die jämmerlichen Wächter sich vor Entsetzen wanden.
Die ganze Zeit hatte Voxzaco gewusst, dass Goth niemals der wahre Diener von Zotz sein konnte. Er hatte einfach keine Ahnung. Er war eitel und anmaßend und der Verantwortung nicht würdig, Zotz zu dienen.
Goth hatte versagt.
Nun lag es an ihm. Er war alt, zu seinen Lebzeiten würde es keine Sonnenfinsternis mehr geben – nicht für weitere dreihundert Jahre. Wenn er Zotz über und unter der Erde herrschen sehen wollte, würde er jetzt handeln müssen.
Er wusste, was er zu tun hatte.
Für ihn passte alles so vollkommen zusammen.
Im Mittelpunkt des Heiligen Steins die metallene Scheibe. Von dem Augenblick an, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm ihr Zweck klar gewesen. Mithilfe der Scheibe würden sie das Opfer darbringen.
Und sie selber würden das wohlgefälligste Opfer in den Augen von Zotz sein. Was könnte ihm wohlgefälliger sein, als wenn sie ihm ihr eigenes Leben hingäben, ihren wertvollsten Besitz, damit er die Macht erhielt zu herrschen? Sie würden ihr Leben tausendfach zurückbekommen in der Unterwelt.
Voxzaco hüpfte über den Heiligen Stein, kletterte über Wächter und nördliche Fledermäuse hinweg zum Mittelpunkt. Mit den Krallen packte er die Kette, die noch an der Metallscheibe befestigt war. Er war alt, aber das konnte er noch tun, die letzte Tat in seinem Leben.
Er schlug die Luft mit den Flügeln und ganz langsam erhob er sich und trug die Scheibe mit sich. Er flog höher und in der allgemeinen Verwirrung wurde er kaum bemerkt.
Durch die runde Öffnung stieg er hinauf und hinaus in die Dunkelheit des Tages.
Noch zweihundertundsechzig Sekunden.
Er würde viel Zeit haben. Die Scheibe war schwer und zog ihn zur Erde zurück, aber er würde hoch über die Pyramide hinauffliegen.
Und er würde alle Opfer selbst darbringen.
Schatten wurde von Goth verfolgt. Niedrig strich er über den Boden und konnte Verwirrung und Angst in den Augen der Wachen sehen. Wer war der wahre König, wer bloß eine Klanghülle? Viele wichen zurück, als er auf sie zuschoss, und sein Herz hüpfte, als er sah, wie ein paar weitere nördliche Fledermäuse ungehindert davonflogen.
Wo waren jetzt Chinook und seine Mutter? Waren sie frei? Waren sie weggeflogen?
Als er noch einmal über den Opferstein fegte, erblickte er dort eine Fledermaus, die hatte ein Fell mit silbernen Spitzen. Sie war zusammengekrümmt und rührte sich nicht, obwohl sie nicht von Wachen niedergehalten wurde. Warum flog sie nicht weg? Dann bewegte sich die Fledermaus mühsam und Schatten schrie auf.
Um ihren Unterarm lag ein Ring.
Sein Vater.
Aber es war jetzt keine Zeit, etwas zu unternehmen. Ein heller Klangblitz riss seine Aufmerksamkeit hinauf in die Ecken der Decke und mit seinem Echosehen sah er, wie diese gemeißelten Augenpaare zu funkeln begannen. Und er wusste, was das für Augen waren: die Augen von Cama Zotz, die Augen, die ihn so lange in seinen Träumen heimgesucht hatten.
Eine kräftige Luftsäule traf ihn, hüllte ihn ein. Er wehrte sich dagegen, gegen diese finstere Umarmung, in die Zotz ihn nahm. Aber sie hielt ihn fest. Dann schienen ihr Krallen zu wachsen, die an seiner äußeren Klanghülle zupften.
„Schatten!“, brüllte Goth und wandte sich zu ihm hin. „Jetzt sehe ich dich!“
Mit einem kreischenden Geheul riss der teuflische Wind des Zotz Schatten einen Streifen seiner falschen Haut herunter, dann noch einen, und er wusste, in Sekunden würde er nackt gehäutet sein, so nackt wie ein
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