Sonnenlaeufer
an Rache oder Flucht zu denken. Rohans Soldaten waren genauso stumm und reglos. Andrade sank neben der schlanken Gestalt nieder, die sich im Sternenlicht krümmte. Das Licht schimmerte auf seinem hellen Haar.
Er lebte. Blut hüllte ihn wie ein Umhang ein, aber er lebte.
Andrade nickte Chay zu, der Rohan ganz vorsichtig hochhob und ihn dorthin trug, wo Urival ein kleines, wärmendes Feuer entfacht hatte. Andrade erhob sich. Sie stand neben Roelstra und blickte in seine toten Augen hinab. Rohans Messer steckte in seiner Kehle, und seine Lippen waren zu einem halben Lächeln verzogen, das sie bis in die Knochen gefrieren ließ. Steif beugte sie sich nieder und schloss seine Augen, aber das Gefühl von Insekten, die über ihre Haut krochen, verging nicht. Denn er lächelte noch immer; er hatte endlich bekommen, was er sich gewünscht hatte, wenn auch nicht so, wie er es geplant hatte. Genau wie sie.
Sie befahl, den Leichnam in seinen violetten Umhang zu wickeln, und machte sich dann daran, die Wunden ihres Neffen zu versorgen. Sie hatte weder Salben noch Tinkturen, keine mildernden Kräuter, sondern nur einen Schlauch mit Wein, den sie einem von Rohans Männern abgenommen hatte. Diesen flößte sie ihm ein, während Urival das Blut abwusch. Chay sandte Reiter zum Schlachtfeld zurück, um alles Nötige zu holen. Sie kehrten mit größter Schnelligkeit wieder, angeführt von dem verängstigten Tilal und Maarken.
Es dauerte lange, bis sie zufrieden feststellen konnte, dass Rohan keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte. Er hatte seine Augen noch nicht wieder geöffnet, aber aus der Bewusstlosigkeit war Schlaf geworden. Die Anzeichen waren für Andrades geübtes Auge unverkennbar. Zwei Tragen wurden vorbereitet, eine für den lebenden Prinzen und eine für den toten. Tilal hatte daran gedacht, Roelstras Banner am Mast umzudrehen: als Zeichen seines Todes. So konnten Rohans Leute nicht denken, es sei ihr eigener Prinz, der gefallen war.
Andrade blickte auf, als Chay ihren Arm berührte und ihren Namen nannte. Sein Gesicht war von rauen Bartstoppeln übersät, er roch nach Schmutz und Schweiß, und seine grauen Augen waren matt und blutunterlaufen, als er zum Himmel aufblickte. Sie stellte überrascht fest, dass die Sterne fast verblasst waren und dass aus der Schwärze dunkles Blau geworden war, am Horizont mit Rosa und Gold abgesetzt.
»Drachen«, murmelte er.
Sie flogen in kleinen Grüppchen, Jungdrachen, die von wachsamen Drachenweibchen und Altdrachen durch die Luft getrieben wurden. Die Alten stießen Warnungen nach unten aus, damit niemand ihre kostbare Brut bedrohte. Dunkle, grazile Schatten vor der dunstigen Dämmerung, so zogen sie dahin. Auf der Suche nach Futterplätzen, die noch nicht von Menschenblut verdorben waren. Andrade wollte ihnen auf dem neuen Licht folgen, wollte mit ihnen auf eigenen Schwingen dahinziehen, sie verstand langsam Rohans Liebe zu den Drachen. Für sie gab es keine Komplikationen durch Wahl, Motive, Verrat, Täuschung: keinen Kampf wider ihre eigene Natur. Sie blickte auf sein schlafendes Gesicht hinab und strich das glatte, helle Haar zurück.
»Ich wünschte, du könntest sie sehen«, flüsterte sie. »Sie gehören dir, Drachenprinz.«
»Sie gehören der Wüste«, verbesserte Chay sie ruhig. »Genau wie er. Nicht andersherum, Andrade.«
»Ich beneide ihn – und sie«, murmelte sie. »Ich habe niemals etwas anderes besessen als meine Ringe und meinen Stolz. Und nichts hat mich jemals besessen.«
»Um irgendetwas zu beanspruchen, musst du bereit sein, auch selbst beansprucht zu werden. Das ist der erste Schritt, Andrade. Du musst dich selbst geben, zuerst.« Er machte eine Pause, kniete neben Rohan nieder und berührte dessen Schulter. »Wir können von Glück sagen, dass Rohan das schon die ganze Zeit über gewusst hat.«
»Ich habe ihm Sioned gegeben, nicht wahr?«
»Glaubst du wirklich, sie hat dir gehört, so dass du sie geben konntest?«, erkundigte sich Urival leise.
Andrade erstarrte. Sie stand auf und befahl mit einer Geste, Rohan auf die Bahre zu legen. Dann wandte sie sich von den anderen ab. Nichts außer ihren Ringen und ihrem Stolz – aber das war alles, was sie hatte, und sie würde sich damit verteidigen, solange sie lebte.
Ein Drache brüllte in der Morgendämmerung auf, und sie blickte wieder hoch und fragte sich plötzlich, wie es wohl sein mochte, gleichzeitig frei zu sein und besessen zu werden.
Tobin schlug die Augen auf.
Ostvel drückte das
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