Sonnenlaeufer
inspizieren und werde mir von Euch seine Schwächen und Stärken zeigen lassen. Wenn alles zu meiner Zufriedenheit ist, werde ich diejenigen, die sich als wert erweisen, mit jenem Privileg auszeichnen, das derzeit allein Lord Chaynal besitzt.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust!«, brüllte Chaynal Rohan über den Krach hinweg zu.
»Liebster«, meinte Milar besorgt, »hältst du das wirklich für klug? Zehava hat alles bisher Dagewesene durchbrochen, als er Chay Radzyn schenkte, und es war zum Besten, aber …«
»Du bist verrückt geworden!«, schrie Tobin.
Aber Andrade verstand ihn. Die Vasallen würden damit beschäftigt sein, ihre Burgen für Rohans Inspektion vorzubereiten – und wenn er von den Verhandlungen beim Rialla mit dem zurückkehrte, was sie seiner Meinung nach verdienten, dann wären sie mit allem einverstanden, nur um ihre Ländereien wirklich zu besitzen. Hinzu kam, dass Sioned Rohan auf seiner Reise begleiten würde. Das gab jedermann Gelegenheit, sie kennenzulernen. Und schließlich – wenn sie ihn richtig verstand, und davon war sie überzeugt – stand im nächsten Frühjahr ein Krieg mit den Merida bevor. Menschen, die loyal für den Prinzen eintraten, der sie regierte, würden noch heftiger kämpfen, um Ländereien zu beschützen, die ihnen schriftlich zugestanden worden waren – ein Versprechen, das nicht mit dem herrschenden Prinzen verstarb.
Sie berührte Rohans Arm, und er drehte sich zu ihr um. »Lass sie dafür bezahlen«, riet sie.
»Jedes Jahr, so dass Stronghold davon leben kann«, stimmte er zu.
Andrade zeigte mit einem Nicken ihre Zustimmung. »Du gibst ihnen, was sie bereits haben, und sie bezahlen für das Privileg. Sehr wirtschaftlich, Rohan.«
Er setzte sich und nahm einen langen Zug aus seinem Kelch. »Es macht durstig, ein Prinz zu sein«, lautete sein Kommentar.
Als die Monde am Himmel aufstiegen, floss der Wein in Strömen, und die Unterhaltung in der Halle brach niemals ab. Andrade entspannte sich glücklich bei all dem Tumult und genoss die Unterhaltung, die Rohan ihr geboten hatte. Es war Jahre her, dass sie sich inmitten derartiger Geschehnisse befunden hatte, und wenn er hier in Stronghold zu einem solchen Schauspiel fähig war, dann würde sein Auftritt beim Rialla himmlisch sein. Sie konnte es kaum erwarten.
Doch das war noch nicht die letzte Überraschung an diesem Abend. Andrade behielt Sioned im Auge. Ihr fiel auf, dass das Mädchen kaum etwas aß und trank. Steif und beherrscht saß sie da, die Hände im Schoß gefaltet, die Lippen verkniffen. Im Gegensatz zum Feuer ihrer Haare war ihre ganze Haltung Eis. Als die Teller abgeräumt und dampfende Krüge mit Taze auf die Tische gestellt wurden, bemerkte Andrade, dass Sioned nicht mehr auf ihre Hände starrte, sondern den langen Gang entlang und zur Haupttür. Neugierig blickte auch Andrade in diese Richtung. Der Mondschein ließ die hohen Fenster zu beiden Seiten des Eingangs wie verschwommene Rechtecke erscheinen. Das kühle Silberlicht wetteiferte mit dem warmen Glühen der Fackeln. Aber Sioned betrachtete nicht das Licht. Ihre Aufmerksamkeit galt jemandem am anderen Ende der Halle. Sie stand langsam auf und glitt den äußeren Gang entlang, hinter den Rücken der Dinierenden. Andrade schätzte ihren Kurs ab und erstarrte, als sie das Objekt von Sioneds Aufmerksamkeit erblickte.
Der Kellermeister, vor dem Andrade Milar gewarnt hatte, stand in einem der Flecken aus Mondschein neben den Türen. Seine blassen Augen waren trüb, sein Gesicht leer und sein Körper starr. Sie erkannte das Aussehen eines Menschen, der von einem Lichtläufer aus der Ferne als Auge und Ohr benutzt wurde.
Sioned stand nun vor dem zweiten Fenster. Ihre schlanke Gestalt wurde umrahmt von silbrigen Schatten. Andrade sprang auf, wusste aber, dass es bereits zu spät war, um die Faradhi aufzuhalten. Kühl erkannte sie, dass es tatsächlich keinen geeigneteren Augenblick für Sioned gab, um unter Beweis zu stellen, wie nützlich sie Rohan als Prinzessin sein konnte.
Schweigen breitete sich als langsame Welle in der Halle aus, als die Menschen Sioned bemerkten. Sie hob beide Hände. Der Smaragd spie Feuer an ihrem Finger, und ihre anderen Ringe strahlten eigentümlich. Als sich das Licht zwischen ihren Fingern sammelte, stöhnte Andrade ebenso auf wie der Rest der Versammelten. Doch nur sie und die anderen Faradhi’im wussten, dass dies etwas war, was Sioned nicht hätte können dürfen. In dem unbeleuchteten Raum vor der offenen
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