Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute
setzte mich in einer Ecke auf den Boden, von wo aus ich den Eingang beobachten konnte. Ich durfte Kelly auf keinen Fall verpassen, nicht an diesem beschissenen Tag. Sie musste das T-Shirt kriegen und mich umarmen, dann wäre alles wieder gut. Ich saß eine ganze Weile einfach nur da, trank und rauchte eine nach der anderen und starrte auf den Eingang. Ich versuchte sogar so lange wie möglich nicht zu blinzeln, aus Angst, sie könnte genau in dieser Millisekunde vorbeihuschen.
»Du siehst traurig aus«, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme sagen.
Kelly war es nicht, das hätte ich sofort erkannt, also gab es keinen Grund, meine Augen vom Eingang abzuwenden.
»Na und?«, sagte ich möglichst abweisend.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte die Stimme.
Nein, verpiss dich!, wollte ich sagen, aber im Grunde genommen war es mir völlig egal. Sollte sie sich doch zu mir setzen und was erzählen. Solange ich sie nicht dabei anzusehen brauchte, war es egal.
»Von mir aus«, sagte ich.
»Wie heißt du?«, fragte die Stimme.
»Quentin Tarantino«, sagte ich.
»Das ist ein schöner Name.«
»Finde ich auch.«
»Ich heiße Nadia.«
»Aha.«
Ich weiß, ich war unhöflich, aber ich hatte keine Lust auf blöden Small-Talk. Was machst du? Wo wohnst du? Wo gehst du abends so hin? Kennst du den und den? Immer dasselbe beschissene, gezwungene Reden über nichts von Bedeutung.
»Ich bin auch meistens traurig«, sagte die Stimme namens Nadia.
»So? Warum?«
»Das Leben. Das Leben macht mich traurig. Weißt du, was ich meine?«
Moment mal. Was war das? Sie fragte mich, den Erstgeborenen der Traurigkeit, ob ich wüsste, was sie meinte? Das hörte sich nicht gerade nach Small-Talk an. Sie hatte es geschafft, dass ich den Eingang aus den Augen ließ und sie ansah. Ich kannte sie nicht. Sie war keines von den Mädchen aus der Schule. Aber was ich sofort erkannte, nach einem Blick, war meine Vertraute, die Traurigkeit in ihren Augen. Es waren schöne, tiefe, braune Augen und sie hatten diesen Glanz, den nur diejenigen sahen, die die Traurigkeit genau kannten. Ich hätte sie am liebsten auf der Stelle in den Arm genommen. Ich meine, wie gesagt, ich kannte sie nicht, hatte sie nie zuvor gesehen, aber der Glanz in ihren Augen war mir so vertraut, als wäre sie schon den ganzen Tag und länger bei mir gewesen.
»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte ich.
»Das wusste ich. Ich habe es gleich gesehen. Ich glaube, die Traurigen erkennen einander sofort. Die Augen, weißt du?«
»Ja.«
Sensationell. Dieses Mädchen war unglaublich. Im Nachhinein fragte ich mich, ob es überhaupt wirklich da war, oder ob ich mich schon ins Delirium getrunken hatte.
»Warum bist du traurig?«, fragte sie.
»Ich hab heute mein Abi gemacht.«
»Ich verstehe. Die Zukunft.«
»Ja, genau, die Zukunft. Die Zukunft, das Leben und Kelly und dieser ganze beschissene Tag. Darum bin ich traurig.«
»Ist Kelly deine Freundin?«
»Nein. Kelly ist das Mädchen, das ich liebe. Heute Morgen hat sie mir das Leben gerettet und ich bin den ganzen Tag in dieser Scheißstadt herumgelaufen, um ihr ein Geschenk zu kaufen. Willst du es sehen?«
»Ja, wenn du es mir zeigen willst, gern.«
Ich packte das T-Shirt aus der Tüte und zeigte es ihr.
»Wendy«, erkannte sie sofort. »Das ist ein sehr schönes Geschenk. Sie wird sich bestimmt darüber freuen.«
»Meinst du wirklich?«
»Bestimmt.«
»Hoffentlich. Es muss ihr einfach gefallen.«
»Sie weiß nicht, dass du sie liebst, oder?«
»Nein.«
»Warum sagst du es ihr nicht?«
»Ich habe Angst.«
»Angst, dass sie dich nicht liebt?«
»Ja, ich glaube.«
»Wie lang kennst du sie schon?«
»Zwei Jahre.«
»Und seit wann bist du in sie verliebt?«
»Seit zwei Jahren.«
»Seht ihr euch oft?«
»Fast jeden Tag.«
»Und ihr versteht euch richtig gut?«
»Wir verstehen uns sogar blind.«
»Aber du hast keine Ahnung, ob sie dich liebt?«
»Sie hätte es bestimmt gesagt, wenn es so wäre.«
»Und wenn sie genauso unsicher ist wie du?«
»Kelly nicht. Sie würde es mir sagen. Sie ist ein sehr modernes und offenes Mädchen.«
»Du hast nicht viel Erfahrung mit Mädchen, oder?«
»Es geht, warum?«
»Die meisten Mädchen, egal, wie modern und emanzipiert, warten immer noch darauf, dass der Junge den ersten Schritt macht. Wir haben das Vorrecht, warten zu dürfen, was allerdings auch nicht unbedingt leichter ist.«
»Du meinst, Kelly wartet vielleicht nur darauf, dass ich den Anfang
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