Sonnenstürme
vergessen.
Rod’hs Geist hatte sie begleitet und sie gelegentlich berührt, um Trost und Kraft aus ihrer Präsenz zu schöpfen. Er tat Osira’h Leid. Nach all der Zeit beschäftigten sich die anderen Halbschwestern und Halbbrüder lieber mit lehrreichen Spielen. Offenbar hatten sie schon vor einer ganzen Weile das Interesse an diesen Übungen verloren. Nur Osira’h und Rod’h ließen sich nicht davon ablenken.
Die Linsen-Männer und der Mentalist merkten schnell, dass Osira’h und Rod’h von ihrer geistigen Reise zurück waren. »Ausgezeichnet! Heute habt ihr beide große Fortschritte erzielt.«
Osira’h sah die Lehrer und ihre Geschwister an, in dem Wissen, dass sie alle Werkzeuge waren. Die meisten Ildiraner hatten keine klare Vorstellung davon, was auf Dobro geschah, aber Osira’h wusste Bescheid. Ihre Mutter hatte sich geopfert, damit sie alle Informationen bekam.
Einer der Ildiraner des Linsen-Geschlechts lächelte. »Du näherst dich allmählich dem Leistungsvermögen deiner Schwester, Rod’h. Es wird den Designierten Udru’h freuen, dem Weisen Imperator davon zu berichten. Deine Kraft gibt uns eine wichtige zweite Chance.«
Der Mentalist fügte hastig hinzu: »Und Osira’h wird stärker, als wir zu hoffen gewagt haben. Du wirst dem Ildiranischen Reich eine strahlende Zukunft geben.«
»Ja«, sagte Osira’h. »Rod’h ist sehr stark.«
Vielleicht wäre er sogar der bessere Kandidat gewesen, dachte sie. Osira’h war als Heldin aufgewachsen, aber sie hatte eine Schwäche, die Rod’h fehlte – ihren Bruder belasteten keine Fragen und Zweifel.
79 NIRA
Unter dem hellen Himmel ihrer einsamen Insel begann Nira mit der Umsetzung eines riskanten Plans. Sie wollte versuchen, ihr Exil und auch Dobro zu verlassen.
Über dem Strand, jenseits der Stelle, die das Wasser bei den häufigen Unwettern erreichte, die über die Insel hinwegzogen, ließ Nira den letzten Baumstamm sinken. Sie hatte ziemlich lange im Dickicht gesucht und endlich genug Material für den Bau eines Floßes zusammen, ohne Bäume fällen zu müssen – das wäre ihr als grüner Priesterin ein Gräuel gewesen. Die von ihr verwendeten Bäume waren umgestürzt, aus Alter oder in einem Sturm.
Nacheinander zog Nira die leichten Stämme zum Strand, um dort mit scharfkantigen Steinen und Muscheln Rinde und Zweige von ihnen zu lösen. Anschließend griff sie auf Methoden zurück, die sie aus den Abenteuern von Schiffbrüchigen kannte – als Akolyth hatte sie den Weltbäumen entsprechende Geschichten vorgelesen. Mit Ranken band sie jeweils zwei Stämme zusammen und verstärkte die Verbindung dann mit Gummisaft. Langsam nahm ihr Floß Gestalt an, wurde breiter und seetüchtiger.
Mit jedem verstreichenden Tag wuchs ihre innere Unruhe. Der Dobro-Designierte konnte jederzeit zu einem neuerlichen Besuch zurückkehren, und wenn das geschah, musste sie fort sein. Er durfte nicht sehen, womit sie beschäftigt war. Als grüne Priesterin verlor sie keine Zeit damit, Vorräte zu sammeln. Der große See bot ihr trinkbares Süßwasser, und der helle Sonnenschein gab ihrer grünen Haut genug Nahrung.
Entschlossenheit brauchte Nira derzeit am dringendsten. Sie war zu lange passiv gewesen. Osira’h hielt sie sicher für tot, ebenso wie Jora’h und alle auf Theroc. Aber das bedeutete nicht, dass sie aufgeben und auf dieser Insel resignieren durfte. Sie musste etwas unternehmen, auch wenn ihre Chancen nicht besonders gut standen. Der Plan hielt die Verzweiflung von ihr fern.
Als das Floß fertig war, fertigte Nira ein Segel aus dicken Blättern an, schob ihr Gefährt ins Wasser und entfernte sich von der Insel. Sie wusste nicht, wohin Wind und Strömung sie bringen würden. Ganz gleich, welches Ufer sie schließlich erreichte – es war ein Ausgangspunkt. Derzeit gab sie sich damit zufrieden, ihrem vom Designierten bestimmen Exil zu entkommen.
Nira sah zum weiten Himmel hoch und lehnte sich auf dem treibenden Floß zurück. Sollte das Schicksal über ihren Weg bestimmen; anschließend würde sie neue Pläne schmieden.
Einen ganzen Tag lang blieb der Wind warm und sanft, doch dann lebte er auf und zerrte mit größerer Kraft am Blättersegel. Das Floß schwankte auf den Wellen, und Niras Sorge nahm zu. Um sie herum reichte das aufgewühlte Wasser in allen Richtungen bis zum Horizont, ohne den geringsten Hinweis aufs nächste Ufer. Nira hatte nie eine Karte von Dobro gesehen, wusste aber, dass sie sich auf einem See befand, wenn auch auf einem sehr
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