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Sonnensturm

Sonnensturm

Titel: Sonnensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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Londoner
sich zusammengerauft. Die Geschäfte hatten wieder
geöffnet und handgemalte BUSINESS-AS-USUAL-Schilder
herausgehängt, mit denen man sonst Terroranschlägen
trotzte. Jubel war aufgebrandet, als die ersten
Feuerwehr-Oldtimer aus den 1950ern – die
›Grünen Göttinnen‹ – mit
Sirenengeheul durch die Straßen der Stadt brausten.
Museumsstücke, die ›zu dumm zum Versagen‹
waren, wie die Bürgermeisterin es ausdrückte. Es war
eine Zeit des Widerstands, des ›Spirit of the
Blitz‹, wie die Leute sagten. Sie meinten damit den
Widerstandsgeist und Überlebenswillen im Zweiten Weltkrieg,
der nun schon fast ein Jahrhundert zurücklag.
    Doch diese Anspannung legte sich bald wieder.
    Die Welt hatte sich weitergedreht, und der 9. Juni verblasste
allmählich in der Erinnerung. Die Leute gingen zur
Tagesordnung über, die Schulen wurden wieder geöffnet
und die großen Electronic-Commerce-Händler waren auch bald wieder im Geschäft. Dennoch kam London nur
mühsam auf die Beine: Es gab noch immer keine
Wasserversorgung in Hammersmith, keinen elektrischen Strom in
Battersea, kein funktionierendes Verkehrsleitsystem in
Westminster. Bald verloren die Leute die Geduld und suchten nach
einem Sündenbock.
    Im Oktober hatten sowohl Bisesa als auch ihre Tochter das
Gefühl, hinter Gittern zu sitzen. Sie hatten die Wohnung
zwar ein paarmal verlassen und waren durch eine trübsinnige
Stadt zum Fluss und in die Parks gegangen. Dennoch war ihre
Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Der in Bisesas Arm
implantierte Kreditchip war schon über fünf Jahre alt,
und die darin gespeicherten Daten waren längst
gelöscht: In einer Zeit der globalen elektronischen
›Etikettierung‹ war sie eine Nichtperson. Ohne
einen aktivierten Chip vermochte sie weder einzukaufen noch die
U-Bahn zu benutzen und ihrem Kind nicht einmal ein Eis zu
kaufen.
    Sie wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte.
Immerhin war sie mit ihrem verschmorten Chip unsichtbar –
für die Armee und auch für jeden sonst. Aber es war nur
dem Umstand zu verdanken, dass sie schon vor langer Zeit ihrer
Cousine Linda Zugriff auf ihre Ersparnisse gewährt hatte,
dass sie nicht verhungerte.
    Sie fühlte sich trotzdem noch nicht in der Lage, etwas an
diesem Zustand zu ändern. Es ging nicht nur darum, dass sie
mit Myra zusammen sein wollte. Sie war nach wie vor nicht
imstande, diese außergewöhnlichen Erfahrungen aus dem
Kopf zu verdrängen.
    Sie versuchte die Sache aufzuarbeiten, indem sie ihre
Geschichte niederschrieb. Sie diktierte sie Aristoteles, doch ihr
Murmeln störte Myra. Also schrieb sie es von Hand nieder und
wies Aristoteles an, den Text ins elektronische Gedächtnis
zu scannen. Sie wollte es richtig machen; sie ging noch einmal
die verschiedenen Entwürfe durch und versuchte dem
Gedächtnis möglichst viele Einzelheiten zu entlocken
– Spektakuläres und Triviales gleichermaßen.
    Als sie jedoch auf die Worte auf der Softscreen vor sich
starrte – in der tristen Wohnung, mit dem Stimmengewirr von
Myras Cartoons und Synth-Soaps im Hintergrund –, glaubte
sie es selbst immer weniger.
     
    Am 8. Juni 2037 hatte Leutnant Bisesa Dutt sich auf einer
Friedenserhaltungs-Patrouille in einem Winkel Afghanistans
befunden. Sie war in Begleitung eines weiteren britischen
Offiziers, Abdikadir Omar und eines Amerikaners, Casey Othic. In
diesem unruhigen Teil der Welt trugen sie alle die blauen Helme
der Vereinten Nationen. Es war eine Routine-Patrouille an einem
Tag wie jeder andere gewesen.
    Dann hatte ein junger islamischer Kämpfer versucht, ihren
Helikopter abzuschießen – und die Sonne war über
den Himmel gewandert – und als sie schließlich aus
der abgestürzten Maschine herausgekommen waren, hatten sie
sich irgendwo ganz anders wieder gefunden. Nicht etwa an einem
anderen Ort, sondern in einer anderen Zeit.
    Sie waren auf die Erde des Jahres 1885 verschlagen worden:
eine Zeit, als das Gebiet von den Briten, die es kontrollierten,
als die Nordwestliche Grenze bezeichnet wurde. Sie waren in ein
Fort Jamrud gebracht worden, wo Bisesa einem jungen Bostoner
Journalisten namens Josh White begegnet war. Der im Jahr 1862
geborene Josh – der in Bisesas Welt längst wieder zu
Staub geworden war –, war hier gerade
dreiundzwanzig. Und hier gab zu ihrer Überraschung auch
Rudyard Kipling, der Barde der ›Tommies‹, sich ein
Stelldichein – wie durch ein Wunder von den Toten

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