Sonnensturm
auferstanden. Jedoch waren diese romantischen Viktorianer selbst
Ausgestoßene in der Zeit.
Bisesa hatte versucht, das Puzzle zusammenzusetzen. Sie waren
allesamt in eine andere Welt projiziert worden, eine Welt aus
Fetzen und Flicken, die aus dem Geflecht der Zeit herausgerissen
worden waren. Sie nannten diese neue Welt Mir, ein russisches
Wort sowohl für ›Welt‹ als auch für
›Frieden‹. Stellenweise sah man das
Flickwerk, wenn die Bodenhöhe sich plötzlich um einen
Meter oder mehr änderte oder wo eine Platte mit altem
Grünzeug mitten in einer Wüste abgeladen worden
war.
Niemand wusste, wie das hatte geschehen können, und noch
weniger, weshalb – und nachdem die Patchwork-Welt dann
zusammengefugt worden und eine turbulente neue Geschichte
über sie alle hinweggefegt war, waren sie in einen Kampf ums
persönliche Überleben verstrickt worden, sodass solche
Fragen müßig wurden.
Aber die Fragen blieben dennoch. Die neue Welt war mit
›Augen‹ gespickt – silbernen Sphären mit
einer vexierbildartigen Geometrie, lautlos, wachsam und statisch,
über die Landschaft verstreut wie autonome Fernsehkameras.
Was sollten diese Augen sein, wenn nicht künstlich?
Vertraten sie die höhere Instanz, die die Welt auseinander
genommen und dann so schlampig wieder zusammengesetzt hatte?
Und dann war da noch die Frage nach der Zeitspanne. Mir schien
eine Art Kaleidoskop der Menschheit und ihrer Entwicklung
darzustellen: von den schimpansenartigen Australopithecinen vor
zwei Millionen Jahren über die Varianten der vormenschlichen
Hominiden und durch die Epochen der Menschheitsgeschichte. Und
diese große Collage endete, soweit irgendjemand zu sagen
vermochte, am 8. Juni 2037 in der Zeitscheibe, die Bisesa und
ihre Kameraden hierher befördert hatte. Wieso gab es keine
Ausblicke auf die fernere Zukunft? Bisesa hatte sich gefragt, ob
es vielleicht daran lag, dass dieses Datum einen Schlusspunkt der
Menschheitsgeschichte markierte – weil es nämlich
keine Zukunft gab, von der man Proben zu nehmen vermocht
hätte.
Und dann war sie, und nur sie allein, von den Augen
– oder vielleicht auch von den mysteriösen
Intelligenzen hinter ihnen – nach Hause gebracht worden und
hatte am nächsten Tag, dem 9. Juni, einen tödlichen
Sonnenaufgang über London beobachtet.
Bisesa war überzeugt, dass es sich bei der Konstruktion
von Mir nicht um ein verblüffendes Naturereignis handelte,
sondern um einen zielgerichteten Vorgang, die Handlung
einer grausamen Intelligenz, die eigne Absichten damit verfolgte.
Doch wieso war die Geschichte der Erde seziert worden? Wieso
sollten die Augen dort spähen und lauschen? Stand das
alles – und das befürchtete sie nämlich –
in einem Zusammenhang mit dem Aufbrausen der Sonne?
Und wieso war sie zurück nach Hause gebracht worden? Myra
wieder zu sehen, war natürlich ihr Wunsch gewesen. Auf Mir,
in den Tiefen ihrer Einsamkeit und Verzweiflung hatte sie sogar
ein Auge angefleht, sie zu retten. Aber sie war sicher,
dass ihre Wünsche irrelevant waren. Die richtige Frage
lautete: Welchen Zweck verfolgten sie mit ihrer
Rückkehr?
Die in der Wohnung eingeschlossene und mit ihrem Bericht
hadernde Bisesa filterte die Nachrichten und versuchte unter dem
Eindruck der Erinnerung und des bruchstückhaften Verstehens
eine Entscheidung zu treffen.
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BRIEFING
Auf der Clavius-Basis verspürte Siobhan nach ein paar
Stunden Schlaf immer noch einen leichten Jetlag oder besser
Moonlag, sagte sie sich. Verursacht wurde er durch eine
Zeitdifferenz zu London, die einer Atlantiküberquerung
entsprach.
Um sich frisch zu machen, duschte sie. Sie wurde durch die
schimmernden Kügelchen verzückt, die aus dem Duschkopf
quollen. Sie wollte ein guter Besucher des Mondes sein und hielt
den Duschvorhang mit Klettverschlüssen geschlossen, bis das
Saugsystem sich auch das letzte wertvolle Molekül des
verbrauchten Wassers zurückgeholt hatte.
Noch von der Komarov aus hatte sie Verbindung mit Bud
aufgenommen und ihn gebeten, ein umfassendes Briefing
anzuberaumen. Soweit sie es sagen konnte, waren die besten
Sonnenwissenschaftler des Mondes alle anwesend; von
Helio-Seismologen bis zu Studenten der elektromagnetischen
Strahlung von Radiowellenlängen bis zu Röntgenstrahlen
– und natürlich die Jünger der
Neutrino-Astronomie, die vor dem 9. Juni Alarm geschlagen hatten.
Erst wenn sie Clavius erreichten, sollten die
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