Sonnensturm
des Oktoberhimmels erinnerte sie an die
Ferien, die sie als Kind mit ihrem französischen Vater in
der Provence verbracht hatte. Welche Farbe hätte Papa diesem
Himmel wohl zugeschrieben? Himmelblau? Azurblau?
An solch einem Tag, unter solch einem Himmel, wenn London wie
ein leuchtender Teppich unter ihr ausgebreitet war, musste Miriam
sich immer klar machen, dass sie kein kleines Kind mehr war,
sondern die Ministerpräsidentin ganz Eurasiens mit einer
dementsprechend großen Verantwortung. Und es fiel ihr
schwer, solche schlechten Nachrichten wie die von Siobhan zur
Kenntnis zu nehmen.
Siobhan saß ruhig da und ließ ihre Worte
wirken.
Nicolaus Korombel, Miriams Pressesprecher, war die einzige
weitere Person im Raum, die an dieser Krisensitzung teilnahm. Der
gebürtige Pole hatte die Angewohnheit, immer Hemden zu
tragen, die ein paar Nummern zu klein waren für seinen
dicken – der sitzenden Tätigkeit geschuldeten –
Bauch, und Miriam sah sogar Brusthaar zwischen den zum
Abreißen gespannten Knöpfen hervorlugen. Aber er war
der Berater des inneren Kreises, auf den sie sich am meisten
verließ, und seine Einschätzung von Siobhan würde
in ihre endgültige Beurteilung dessen einfließen, was
sie zu sagen hatte.
Nun lehnte Nicolaus sich zurück, verschränkte die
Finger hinterm Kopf und blies die Luft aus den Backen.
»Dann steht uns also die Mutter aller Sonnenstürme
bevor.«
»So könnte man es ausdrücken«, sagte
Siobhan trocken.
»Aber wir haben auch den 9. Juni überstanden, und
jeder sagte, das sei schon der schlimmste Sturm der
Geschichtsschreibung gewesen. Was kommt diesmal auf uns zu? Der
Verlust der Satelliten und der Ozonschicht…«
»Wir sprechen hier über einen Energiefluss, der um
viele Größenordnungen stärker ist als der vom 9.
Juni«, sagte Siobhan.
Miriam hielt die Hände hoch. »Professor McGorran,
ich war Rechtsanwältin in den Zeiten, als ich noch einen
richtigen Job hatte. Mit dieser Terminologie vermag ich leider
nichts anzufangen.«
Siobhan wagte ein Lächeln. »Ich bitte vielmals um
Entschuldigung, Frau Ministerpräsidentin…«
»Ach, nennen Sie mich Miriam. Ich habe das Gefühl,
dass wir ziemlich eng zusammenarbeiten werden.«
»Also Miriam. Ich verstehe Sie. Ich bin zwar
Königliche Astronomin, aber dies ist trotzdem nicht mein
Fachgebiet. Ich muss mich auch erst zurechtfinden.« Siobhan
präsentierte eine zusammenfassende Grafik, eine Tabelle mit
Zahlen, die die große Wand-Softscreen ausfüllte.
»Am besten fange ich noch einmal ganz von vorne an. Im
April 2042, also nur viereinhalb Jahre in der Zukunft, erwarten
wir ein großes Sonnenereignis. Es wird im Wesentlichen ein
äquatoriales Aufflammen der Sonne stattfinden, aus dem ein
Energiefluss resultiert, der die Orbitalebene der Erde und der
anderen Planeten überfluten wird. Unseren Schätzungen
zufolge wird die Erde einer Energie von ungefähr zehn hoch
vierundzwanzig Joule ausgesetzt sein. Das ist ein zentraler Wert;
wir haben eine neunundneunzigprozentige Vertrauensgrenze einer
Größenordnung nach oben oder unten.«
Schon wieder dieser Begriff. »Größenordnung?«
»Eine Zehnerpotenz.«
Nicolaus rieb sich das Gesicht. »Ich hasse es, meine
Unkenntnis zu gestehen. Soweit ich weiß, ist ein Joule eine
Maßeinheit für Energie, aber ich habe keine Ahnung,
wie groß sie ist. Und diese ganzen Exponenten – ich
weiß wohl, dass zehn hoch vierundzwanzig…
ähem… eine Billion mal eine Billion ist,
aber…«
»Bei der Detonation einer Ein-Megatonnen-Atomwaffe
werden etwa zehn hoch fünfzehn Joule freigesetzt«,
sagte Siobhan geduldig. »Das ist eine Billiarde. Das
globale Kernwaffen-Arsenal zur Zeit des Kalten Krieges belief
sich auf etwa zehntausend Megatonnen; heute liegen wir
wahrscheinlich bei zehn Prozent davon.«
Nicolaus übte sich im Kopfrechnen. »Dann
beläuft Ihre Energiezufuhr von zehn hoch vierundzwanzig
Joule von der Sonne…«
»Sie beläuft sich auf eine Milliarde Megatonnen,
die über die Erde hereinbrechen. Oder das Hundert tausend fache der Energie, die in einem atomaren Super-GAU
freigesetzt worden wäre.« Sie sprach es gelassen aus
und suchte Blickkontakt zu ihnen. Miriam sah, dass Siobhan
versuchte, es ihnen Schritt für Schritt begreiflich zu
machen; sie wollte, dass sie es ihr glaubten.
»Wieso hat man uns nicht schon früher
alarmiert?«, fragte Nicolaus unwirsch. »Wieso sind
gerade Sie darauf gestoßen? Was geht
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