Sonnensturm
überhaupt
da oben auf dem Mond vor?«
Nur dass der Mond an sich nicht das Problem war; vielmehr war
es der verwirrte Kopf des jungen Wissenschaftlers, der all das
ausgerechnet hatte.
»Eugene Mangles«, sagte Miriam.
»Ja«, erwiderte Siobhan. »Er ist brillant,
hat aber keinen richtigen Draht zum Rest der Welt. Wir brauchen
ihn. Aber wir müssen ihm die schlechten Nachrichten
regelrecht aus der Nase ziehen.«
»Und was enthält er uns noch alles vor?«,
sagte Nicolaus grantig.
Miriam hielt die Hand hoch. »Siobhan – sagen Sie
mir nur eins. Wie schlimm wird es kommen?«
»Die Modellierung ist noch unsicher«, sagte
Siobhan. »Aber so viel Energie würde die
Atmosphäre wie eine Haut komplett abziehen.« Sie
zuckte die Achseln. »Die Ozeane werden sieden und
verdampfen. Die Erde selbst wird es wohl überstehen:
allerdings nur als toter Gesteinsplanet. Das Leben im Kilometer
tiefen Urgestein wird wahrscheinlich überleben. Extremophile
-Hitze liebende – Bakterien.«
»Aber wir nicht«, sagte Nicolaus.
»Wir nicht. Und auch sonst nichts von der
Oberflächen-Biosphäre, weder auf dem Land noch in der
Luft oder im Wasser. Es tut mir Leid«, sagte Siobhan in der
daraufhin eintretenden Stille. »Das ist eine schreckliche
Nachricht, die ich vom Mond mit nach Hause gebracht habe. Es hat
auch keinen Sinn, es zu beschönigen.«
Sie verstummten und versuchten zu verdauen, was sie gerade
gesagt hatte.
Nicolaus brachte Miriam eine Tasse Tee auf einer Untertasse
mit einem Monogramm. Es war die von ihr bevorzugte Sorte Earl
Grey. Das alte Klischee, dass die Briten süchtig seien
nach ihrem wässrigen, mit Milch versetzten Tee, galt schon
seit mindestens einem halben Jahrhundert nicht mehr. Miriam, eine
europäische Ministerpräsidentin mit einem
französischen Vater, war indes stets darauf bedacht, die
Empfindlichkeiten dieser noch immer unterschwellig
euroskeptischen Insulaner nicht zu verletzen. Also trank sie
ihren Earl Gray nur außer Sichtweite der Kameras
heiß und ohne Milch.
In dieser Gedankenpause hielt Miriam die Teetasse in beiden
Händen, und ihr Blick schweifte zum Fenster, über die
Stadt.
Der Silberstreif der Themse durchschnitt Londons Stadtbild,
wie er es immer schon getan hatte. Im Osten ragten die
Wolkenkratzer der City empor, nach Moskau die Nummer zwei als
eurasischer Finanzplatz. Die City nahm den größten
Teil dessen ein, was früher das römische Londinium gewesen war; in ihrer Studentenzeit war Miriam
einmal die Linie der Mauer dieser ursprünglichen Siedlung
abgeschritten – ein Weg, der sich ein paar Kilometer vom
Tower bis zur Blackfriars Bridge hinzog. Nach dem Abzug der
Römer hatten die Angelsachsen eine neue Stadt im Westen der
alten Mauern errichtet, heute bekannt als West End. Mit
der schnellen Ausdehnung der Städte im Zug der industriellen
Revolution waren diese komplizierten Knoten der vielschichtigen
Historie durch die neue Vorstadtentwicklung
›durchgehauen‹ worden, bis London das Herz eines
riesigen Ballungsraums war, der heute von Brighton im Süden
bis Milton Keynes im Norden sich erstreckte.
Die grundlegende Geografie Londons hatte sich seit den 1950er
Jahren nicht grundlegend geändert. Ein Zeitzeuge von damals
hätte jedoch über die schimmernde Breite der Themse
gestaunt und über die massiven Flanken der neuen
Flutbarrieren, die hinter den Gebäuden schemenhaft zu
erkennen waren. Die Themse war im Laufe der Jahrhunderte
gebändigt und in ein vertieftes und verengtes Bett
gezwängt worden – die Nebenflüsse hatte man
›überdacht‹ und die Flussauen zubetoniert. Bis
zur Jahrhundertwende war London noch damit durchgekommen. Aber
die globalen Klimaverschiebungen hatten einen unaufhaltsamen
Anstieg des Meeresspiegels zur Folge gehabt, und die Menschen
waren von der Themse, die zur Rückeroberung ihrer alten
Territorien entschlossen war, zum Rückzug gezwungen
worden.
Die Realität der Klimaveränderung und ihrer
Auswirkungen war unbestreitbar und wirkte sich auch auf das
politische Tagesgeschäft von Miriam aus. Erstaunlicherweise
wurde die Diskussion über die Ursachen immer noch
geführt. Jedoch war diese jahrzehntealte Debatte nun
müßig, weil man sich der Notwendigkeit bewusst wurde,
etwas dagegen zu tun. Die Leute hatten den Willen zu handeln,
sagte Miriam sich – eine erfreuliche und wachsende
Erkenntnis, dass man die Dinge zu lang hatte schleifen lassen und
dass etwas getan werden
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