Sonnensturm
den Arsch«,
schimpfte Miriam Grec. Hier in ihrem
›Euronadel‹-Büro nippte sie am Whisky und
ließ sich noch etwas tiefer in die Couch sinken. »Wie
kann man es als ›einmütig‹ bezeichnen, wenn
die Chinesen eine Mitarbeit abgelehnt haben?«
»Die Chinesen denken strategisch, Miriam«,
erwiderte Nicolaus. »Das ist nichts Neues. Zweifellos
betrachten sie dieses Problem mit der Sonne als eine neue
geopolitische Gelegenheit.«
»Vielleicht. Aber Gott allein weiß, was sie mit
all diesen Taikonauten und ›Langer Marsch‹-Boostern
im Schilde führen…«
»Sicher werden sie am Ende doch noch
mitziehen.«
Sie musterte ihn. Auch während er sprach, hatte Nicolaus
Korombel ein Auge auf der Softscreen, auf der das Konterfei von
Alvarez abgebildet wurde und das andere auf Monitoren, die auf
mannigfaltige Art und Weise die Reaktion der Welt auf
Alvarez’ Botschaft zeigten. Miriam war noch niemandem
begegnet, der in dem Maß wie Nicolaus die Fähigkeit
zur parallelen Verarbeitung von Sinneseindrücken hatte. Das
war aber nur einer der Gründe, weshalb sie ihn so
schätzte.
Obwohl sie es selbst irgendwie als Widerspruch empfand, war er
durch sein geradliniges und rationales, zum Zynismus tendierendes
Denken – das ihn so wertvoll für sie machte –
auch ziemlich undurchsichtig. Sie wusste im Grunde nichts
über seine Beweggründe und Ansichten. Mitunter
bereitete ihr das peripher Sorgen. Sie musste ihn aus der Reserve
locken, sagte sie sich, um ihn besser kennen zu lernen. Aber es
ergab sich nie die Gelegenheit dazu. Und im Tagesgeschäft
war er einfach unentbehrlich.
»Und wie ist die Reaktion?«
»Die wichtigsten Aktienindizes sind um siebzehn Prozent
gefallen«, sagte Nicolaus. »Für eine spontane
Reaktion ist das aber nicht so schlimm, wie wir zunächst
befürchtet hatten. Raumfahrt- und Hochtechnologie-Werte
explodieren verständlicherweise.«
Miriam wunderte sich über solch eine Antwort. Das Streben
nach Reichtum war eine fundamentale menschliche Eigenschaft
– sonst würde die Weltwirtschaft auch nicht
funktionieren. Aber sie fragte sich dennoch, was diese Geier von
Investoren sich davon versprachen, wenn sie Füllhörner
über die Raumfahrtunternehmen und andere Firmen
ausschütteten und sie so daran hinderten, ihren eigentlichen
Auftrag zu erfüllen.
Aber es hätte noch schlimmer kommen können, sagte
sie sich. Wenigstens hielt die Präsidentin ihre Rede. Es war
schon schwierig genug gewesen, das Projekt überhaupt so weit
voranzutreiben.
In den wichtigsten Beratungsgremien der Welt hatten viele
hitzige Debatten über den Sinn der Lösung
stattgefunden, die Miriam vorgeschlagen hatte. Das Schild-Projekt
würde die wirtschaftlichen Kapazitäten der
teilnehmenden Länder für Jahre voll auslasten –
und wozu? Allein schon die Energie, die den Schild unvermeidlich
durchdringen würde, hätte verheerende Auswirkungen.
Und sollte man sich wirklich den Arsch aufreißen, um die
Welt zu retten? Einschließlich der Chinesen, die sich
weigerten, sich daran zu beteiligen und der Afrikaner, die schon
wieder renitent wurden; kaum, dass sie sich halbwegs von den
Katastrophen des 20. Jahrhunderts erholt hatten. Wäre es mit
der Rettung Amerikas und Europas nicht getan? Die
Top-Militärs hatten sogar schon Szenarien für die Zeit
nach dem Sonnensturm entwickelt, wenn Eurasien und Amerika
– falls sie die einzigen überlebenden
Industriemächte wären – ihre Festungen
verließen, um den Überresten einer zerstörten
Welt zu ›helfen‹. Es würde eine neue
Weltordnung entstehen, hatte man Miriam gesagt, eine Neuordnung
der geopolitischen Machtverhältnisse, die vielleicht tausend
Jahre dauerte…
Es hatte ein paar tief schürfender Gespräche mit
Siobhan McGorran bedurft, bis Miriam endlich über ihren
beschränkten Politikerhorizont hinauszuschauen vermocht
hatte und die wahre Dimension des Problems erkannte. Der
Sonnensturm war kein neuer 9. Juni, kein Vulkanausbruch und auch
keine Seuche oder Flutkatastrophe. Und man konnte ihn auch nicht
als ›Chance‹ interpretieren oder einen Vorteil
daraus ziehen. Der Untergang der Menschheit, eigentlich
allen Lebens auf der Erde, drohte. In diesem Fall ging es im
Wortsinne um alles oder nichts – eine Botschaft, die Miriam
schließlich in die Köpfe der Entscheidungsträger
der Welt zu hämmern vermocht hatte.
Präsidentin Alvarez führte ihre Rede in ruhigem Ton
fort.
Alvarez war für
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