Sonnensturm
er wird ein von Menschenhand erschaffenes Gebilde sein, das
so groß wie die Sonne oder der Mond am Himmel
hängt.
Man hat mir gesagt, er wäre sogar vom Mars aus mit
bloßem Auge wahrnehmbar. Wir werden dem Sonnensystem in
gewisser Weise unseren Stempel aufdrücken.« Sie
lächelte.
Siobhan erinnerte sich an die Besprechung mit ihrer
›bunten Truppe‹ in der Royal Society, wo
Aristoteles die Idee erstmals präsentiert hatte.
Sie hätte im Prinzip einfacher nicht sein können.
Wenn an einem sonnigen Tag das Licht zu intensiv wurde, spannte
man einen Sonnenschirm auf. Also spannte man analog hierzu zum
Schutz vorm Sturm einen ›Sonnenschirm‹ im Weltraum
auf – eine riesige Abdeckung, die groß genug war, um
die ganze Erde zu beschirmen. Und an jenem schicksalhaften Tag
würde die Menschheit sich dann in den Schutz einer
künstlichen Sonnenfinsternis flüchten.
»Der Schwerpunkt wäre in L1«, hatte Michail
gesagt. »Im Co-Orbit zwischen Sonne und Erde.«
»Und was ist L1?«, fragte Toby.
L1 ist der erste Lagrangepunkt des Erde-Sonne-Systems. Ein
Objekt, das zwischen der Erde und der Sonne umläuft –
wie die Venus –, folgt seiner Bahn schneller als die Erde.
Dabei zerrt das Schwerefeld der Erde an der Venus, wenn auch viel
schwächer als die Sonne. Positionierte man aber einen
Satelliten viel näher an der Erde – etwa in der
vierfachen Entfernung zum Mond –, war die Erdschwerkraft
noch so stark, dass der Satellit von der Erde angezogen wurde und
die Sonne synchron mit der Erde umkreiste.
Dieser Gleichgewichtspunkt wird als L1 bezeichnet, der Erste
Lagrangepunkt: nach dem französischen Mathematiker des
achtzehnten Jahrhunderts benannt, der ihn entdeckt hatte.
Insgesamt gibt es fünf solcher Lagrangepunkte; drei auf der
Linie Sonne-Erde, und die anderen zwei auf der Erdumlaufbahn im
Sechziggradwinkel zum Erde-Sonne-Radius.
»Aha«, hatte Toby mit einem Kopfnicken gesagt.
»Erde und Satellit rotieren im Gleichtakt. Als ob Erde und
Satellit an einem riesigen Uhrzeiger befestigt wären, der
aus der Sonne herausragt.«
»Ich war der Ansicht, L1 sei ein Punkt des instabilen
Gleichgewichts«, sagte Siobhan und fügte angesichts
von Tobys verwirrtem Gesichtsausdruck hinzu: »Wie ein
Fußball, der auf einem Berggipfel anstatt in einem Tal
liegt. Der Ball ist zwar stationär, kann aber jeden Moment
in jeder Richtung herunterrollen.«
»Ja«, sagte Michail. »Aber wir haben bereits
Satelliten an solchen Positionen platziert. Man vermag den
Lagrangepunkt sogar zu umkreisen und schon mit einer kleinen
Menge Brennstoff die stationäre Position zu halten. Das
bewegt sich innerhalb des Erfahrungskontinuums: astronautisch
kein Problem.«
Toby hatte die Hand ins Licht der Deckenlampe gehalten und
versuchsweise das Gesicht beschirmt. »Verzeihen Sie mir
eine dumme Frage«, sagte er. »Aber wie groß müsste dieser Schild sein?«
Michail seufzte. »Der Einfachheit halber nehmen Sie an,
dass die Sonnenstrahlen parallel auf die Erde treffen. Daraus
ersehen Sie, dass der Schild genauso groß wie das Objekt
sein muss, das man abschirmen will.«
»Dann muss der Schild also eine Scheibe mit mindestens
dem Durchmesser der Erde sein«, sagte Toby. »Und der
beträgt…«
»Ungefähr dreizehntausend Kilometer.«
Toby war die Kinnlade heruntergeklappt. Aber er ließ
sich nicht beirren. »Dann reden wir also über einen
Schild mit einem Durchmesser von dreizehntausend Kilometern. Der
noch dazu im Weltraum gebaut werden muss. Wo das
größte Objekt, das wir bisher konstruiert haben,
die…«
»Internationale Raumstation ist«, sagte Michail.
»Deutlich kleiner als ein Kilometer.«
»Kein Wunder, dass ich nicht von selbst darauf gekommen
bin«, sagte Toby. »Auf der Suche nach eigenen
Lösungen hatte ich die offensichtlich utopischen Optionen
gar nicht erst in Betracht gezogen. Und das hier ist
offensichtlich utopisch.« Er schaute flüchtig auf
Siobhan. »Nicht wahr?«
Natürlich war es reine Utopie. Dennoch hatten die drei
ihre Softscreens strapaziert, um ins Detail zu gehen.
»Es hat früher schon diesbezügliche Studien
gegeben«, sagte Toby. »Hermann Oberth scheint als
Erster eine solche Idee entwickelt zu haben.«
»Man würde natürlich ultradünne
Materialien verwenden«, sagte Michail.
»Haushaltsübliche Plastikfolie hat schon eine
Stärke von zehn Mikrometern«, sagte Siobhan.
»Alufolie in dieser Stärke ist auch
verfügbar«, sagte
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