Sonnensturm
alten Zoo in Regent’s Park.
Sie musste dazu extra von Liverpool anreisen. Sie hatte dort
den neuen eurasischen Premierminister in seinem Bunker besucht,
wie er im Volksmund genannt wurde: ein riesiges neues
unterirdisches Regierungszentrum, das – was ziemlich
umstritten war – in der massiven Betonkrypta der Kathedrale
der imposanten alten Stadt eingerichtet worden war.
Auf der M1 stieß Siobhan bei St. Albans auf die erste
Straßensperre – mindestens noch dreißig
Kilometer vom Londoner Zentrum entfernt. Und sie war schon seit
acht Stunden unterwegs. Vor ein paar Jahren hätte die Fahrt
in einem schnellen intelligenten Auto ohne Tempolimit drei
Stunden gedauert. Seitdem war London jedoch zur Festung
geworden.
An diesem heißen Tag im September 2041 war eine Reihe
von Gürteln um die Hauptstadt gelegt worden. Der
äußerste Ring war eine Barriere aus
Straßensperren, Drahtverhauen und Panzersperren, die von
Portsmouth an der Südküste nach Norden über
Reading, Watford und an Chelmsford vorbei zur Ostküste
verliefen. Die Marine kontrollierte den Zugang von See und dem
Fluss genauso streng, und es waren ständig Kampfflugzeuge in
der Luft. Schon an diesem ersten Kontrollpunkt musste Siobhan
eine Stunde warten, bis ihr Ident-Chip, die Netzhaut und der
Pkw-Chip gescannt wurden: Sie mochte noch immer das Ohr des
Premierministers haben, aber niemand wurde in diesen zunehmend
paranoiden Zeiten mehr ohne Kontrolle durchgewinkt.
Das musste auch sein. Wo es nur noch sieben Monate bis zum
Ausbruch des Sturms waren, wurde das Problem von
Flüchtlingen aus den kleineren Städten und vom Land
akut. London war seit 1066 Großbritanniens Mittelpunkt
gewesen, als Wilhelm der Eroberer im Tower seine Gewaltherrschaft
über das alte sächsische Königreich
begründete. Jeder wusste, dass in den letzten Tagen die
halbe Bevölkerung des südlichen Englands nach London
flüchten würde, als ob sie von einem Magneten angezogen
würde. Deshalb auch die gestaffelten Barrieren.
Während sie wartete, sah Siobhan eine dichte schwarze
Rauchwolke über der Stadt St. Albans aufsteigen. Aristoteles
sagte ihr, das sei der Rauch eines großen Freudenfeuers,
der Mittelpunkt einer orgiastischen Feier an der Stelle der
längst verschwundenen römischen Stadt Verulamium. Trotz
der näher rückenden Katastrophe verhielten die meisten
Menschen sich zur Erleichterung der Behörden ganz
manierlich. Aber es gab auch welche, die sich fatalistisch die
›Lords der Letzten Tage‹ nannten – und
dementsprechend die Sau rausließen.
Das Feuer in St. Albans war natürlich unter Verletzung
aller Umweltschutzbestimmungen entfacht worden, aber es gab
genügend Leute, sie sich um so etwas nicht mehr scherten
– nicht, wenn in sieben Monaten ohnehin alles abgefackelt
wurde. Das Gleiche geschah in einem größeren
Maßstab, indem Ölquellen und Gasfelder trocken gepumpt
und hemmungslos Schadstoffe in die Luft und die Meere geblasen
wurden.
Tiefgekühlte Schläfer waren ein anderes Symptom der
auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Wahnsinn
wandernden Menschheit.
In Liverpool hatte sie Bericht über den Einfluss eines
neuen verrückten Trends in den Vereinigten Staaten
erstattet: ›Hibernacula‹, riesige unterirdische
Kammern, in denen die Reichen sich tiefgekühlt einlagern
ließen. Diese Flüchtlinge aus der Realität
wollten den Sonnensturm auf diese Weise aussitzen und sich in
eine bessere Zukunft hinüberretten. Die Hibernacula
erfreuten sich einer immer größeren Nachfrage trotz
des medizinischen Hinweises, dass das Tiefkühlverfahren
wahrscheinlich nicht zuverlässig funktionieren würde
– zumal keine störungsfreie Energieversorgung
während des Sonnensturms garantiert war, sodass am Tag X
vielleicht das große Auftauen stattfand. Und selbst wenn
das System in technischer Hinsicht funktionierte, was war das
für eine Moral, sich der Gegenwart zu entziehen, den anderen
das Aufräumen zu überlassen und nach getaner Arbeit
›zurückzukehren‹ und sich quasi ins gemachte
Nest zu legen? Die ›Cryonauten‹ wären bestimmt
nicht willkommen, nicht einmal in den optimistischsten Szenarios.
Und Siobhan hatte düster prophezeit, dass im schlimmsten
Fall – wenn die Zivilisation trotz des Schutzes des Schilds
auseinander fiele – die Hibernacula den hungernden
Überlebenden mit größter Wahrscheinlichkeit als
Tiefkühltruhen mit Frischfleisch dienen
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