Sonnensturm
der
Nase bohren oder sich am Hintern kratzen. Deshalb werden sie in
ihr eigenes kleines Flüchtlingszentrum verlegt, voll
ausgestattet mit Reifen-Schaukeln und Bananen.«
Bisesas Stimme war müde und ziemlich flach, und Siobhan
vermochte ihre Stimmung nicht zu ergründen. »Sie sind
nicht damit einverstanden?«
»Doch, natürlich. Obwohl es viele gibt, die nicht
damit einverstanden sind.« Bisesa nickte einem Soldaten zu,
einem schwer bewaffneten und sehr jung wirkenden Mann, der auf
der anderen Seite der Grube patrouillierte.
Die Debatte über den Schutz nichtmenschlicher
Lebensformen vorm Sonnensturm ging über die Schimpansen
hinaus, wo die Rechtslage im Grunde eindeutig war. Im Angesicht
des nahenden Sonnensturms hatte man im Rahmen einer großen
weltweiten Initiative versucht, wenigstens eine Probe des Lebens
der großen Königreiche der Welt zu retten. Die Auswahl
musste zwangsläufig wahllos getroffen werden: Unter der
Londoner Arche war ein weitläufiges Hibernaculum
eingerichtet worden, um die Zygoten von Tieren, Insekten,
Vögeln und Fischen zu konservieren sowie Pflanzensamen von
Gräsern bis Bäumen. Bezüglich der Tiere hatten die Archen das schon seit Jahrzehnten getan; seit der
Jahrtausendwende hatten die westlichen Zoos Reserve-Populationen
von Tieren beherbergt, die in freier Wildbahn längst
ausgestorben waren – Elefanten, Tiger, sogar eine
Schimpansen-Art.
Natürlich war das im Grunde sinnlos, sagten manche
Ökologen. Obwohl die Vielfalt des Lebens im kühlen,
trüben Großbritannien sich natürlich nicht mit,
sagen wir, dem äquatorialen Regenwald zu messen vermochte,
fand man in einer Hand voll Erde aus einem biederen Londoner
Garten wohl mehr Spezies – die meisten davon unbekannt
–, als sämtliche Naturforscher der Welt vor einem
Jahrhundert gekannt hatten. Man vermochte nicht alles Leben zu
retten, aber die Alternative hätte darin bestanden,
überhaupt nichts zu tun. Und die meisten Menschen schienen
der Ansicht zu sein, dass man es wenigstens versuchen musste.
Manche waren aber nicht bereit, auch nur einen Finger für
die Rettung anderer Lebensformen als der Menschen zu
rühren.
»Es ist eine Zeit schwerer Entscheidungen«, sagte
Siobhan seufzend. »Wissen Sie, neulich habe ich mit einer
Ökologin gesprochen, die sagte, dass wir unser Schicksal
einfach akzeptieren sollten. Dies sei nur ein weiteres
Massensterben in einer langen Reihe solcher Katastrophen. Es ist
wie ein Waldbrand, sagte sie, eine notwendige Säuberung. Und
jedes Mal geht die Biosphäre reicher daraus
hervor.«
»Aber das hier ist nicht natürlich«, sagte
Bisesa grimmig. »Nicht einmal die Art des
Asteroideneinschlags ist natürlich. Irgendjemand hat das absichtlich getan. Vielleicht ist das auch der Grund,
wieso Intelligenz überhaupt existiert. Weil es nämlich
Zeiten gibt – wenn die Sonne explodiert, wenn der
Dinosaurierkiller zuschlägt –, wo die Mechanismen der
natürlichen Auslese nicht mehr genügen. Zeiten, in
denen man Bewusstsein braucht, um die Welt zu retten.«
»Ein Biologe würde sagen, dass keine Absicht hinter
der natürlichen Auslese steckt, Bisesa. Und die Evolution
vermag einen auch nicht auf die Zukunft vorzubereiten.«
»Ja«, sagte sie lächelnd. »Aber ich bin
kein Biologe, also darf ich es ruhig sagen…«
Es waren solche Gespräche, weshalb Siobhan Bisesas
Gesellschaft so sehr schätzte.
Sieben Monate vorm Ausbruch des Sonnensturms versuchte die
Welt sich verzweifelt für diesen Tag zu rüsten. Vieles
von dem, was getan wurde, war zwar lebenswichtig, aber auch
profan. Zum Beispiel war Londons neue Bürgermeisterin wegen
des eigentlich selbstverständlichen, aber dennoch
wirkungsvollen Versprechens gewählt worden, auf alle
Fälle die Wasserversorgung der Stadt zu gewährleisten,
und seit ihrem Amtsantritt hatte sie dieses Versprechen auch
erfüllt. Eine große neue Rohrleitung erstreckte sich
vom großen Kielder-Reservoir im Norden des Landes bis zur
Hauptstadt – obwohl viele im Nordosten lautstark über
die ›südlichen Weicheier‹ geschimpft hatten,
die ›ihr‹ Wasser stahlen. Solche Arbeiten waren
offensichtlich notwendig – Siobhan war selbst an vielen
solcher Projekte beteiligt –, aber auch banal.
Manchmal konnte sie bei den lauten Unterhaltungen keinen
klaren Gedanken mehr fassen. Da diente Bisesa, die allein in
ihrer Wohnung saß und nur nachdachte, ihr sozusagen als
Prüfstein, als Facette des
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