Sonnensturm
dahin – war ein Fest gezwungener
Freude gewesen. Bisesa glaubte, dass alle insgeheim froh waren,
als es endlich vorbei war.
Sie schenkte sich zu Weihnachten ein Fernrohr. Und an einem
hellen Morgen im Januar 2042 trug sie es mit Myras und Lindas
Hilfe aufs Dach ihres Wohnblocks. An diesem hellen und klaren Tag
im Januar stand die Sonne tief am östlichen Himmel, und die
Aussicht von diesem Dach in Chelsea war einfach sensationell. Die
Stützpfeiler der Kuppel glänzten wie Sonnenstrahlen,
und die über jeden Mauervorsprung drapierten und von jedem
Fenstersims hängenden Smartskin-Decken leuchteten wie
große Blumen.
Das Fernrohr war gebraucht; es war ein
Zehn-Zentimeter-Spiegelteleskop, ein großes, sperriges Teil
– über zwanzig Jahre alt, dafür aber
preisgünstig. Aber es war schon so
›intelligent‹, um durch eine GPS-Abfrage Position
und Lage zu bestimmen. Und wenn man dem Instrument sagte, was man
sich anschauen wollte, richtete es sich mit einem Summen und
Sirren aus und fasste das Ziel automatisch auf, wobei es die
Erdrotation kompensierte. Linda hatte sich über die
antiquierte Benutzerschnittstelle des Geräts mokiert –
es verfügte noch über ein putzig umständliches
Menü –, doch sonst erfüllte es seinen Zweck.
Im Zentrum von London wurde der Himmel zunehmend durch die
Kuppel ausgeblendet, sodass man mit einem Fernrohr kaum noch
etwas anfangen konnte; es sei denn, man wollte die Kolonnen der
Arbeiter observieren, die Tag und Nacht über die Innenseite
des Kuppeldachs krabbelten. Bisesa wollte aber die Sonne
sehen.
Als Bisesa dem Fernrohr das Objekt ihrer Wahl nannte,
plärrte die Kindersicherungs-Software des Teleskops sofort
Sicherheitswarnungen. Bisesa wusste aber schon über alle
Gefahren Bescheid. Mit einem Fernrohr durfte man zum Beispiel
nicht direkt in die Sonne schauen, wenn man sein Augenlicht nicht
verlieren wollte – aber man konnte Bilder projizieren. Also
holte Bisesa einen Klappstuhl nach oben und platzierte eine
breite Lage Papier hinterm Okular des Fernrohrs. Die
Positionierung des Papiers im Schatten des Teleskops und die
Fokussierung des Instruments erwiesen sich als etwas heikel.
Schließlich erschien in der Mitte des komplexen Schattens
des Fernrohrs jedoch eine milchig weiße Scheibe.
Bisesa staunte über die Klarheit des Bilds und seine
Größe von etwa dreißig Zentimetern. Die Scheibe
wurde zum Rand hin etwas dunkler, sodass ihr der deutliche
Eindruck einer Sphäre vermittelt wurde, eines
dreidimensionalen Objekts. Die mittleren Breiten der Sonne waren
mit Gruppen von Sonnenflecken gesprenkelt; sie waren gut zu
erkennen und wirkten wie Staubflocken in einer leuchtenden
Schüssel. Es war eine fast irreale Vorstellung, dass jede
einzelne dieser kleinen Staubflocken-Anomalien größer
war als die ganze Erde und dass sie bei Temperaturen von ein paar
tausend Grad nur deshalb als Schatten abgebildet wurden, weil sie kühler waren als der Rest der
Sonnenoberfläche.
Aber es waren nicht Sonnenflecken, für deren Beobachtung
Bisesa sich das Fernrohr gekauft hatte.
Eine Linie überzog das Antlitz der Sonne, ein Streifen
wässerigen Graus, der von Nordost nach Südwest verlief.
Es war natürlich der Schild. Der oben bei L1 verankerte
Schild war noch immer mit dem Rand zur Sonne ausgerichtet. Aber
er warf bereits einen Schatten auf die Erde.
Bisesa umarmte Myra. »Siehst du? Dort ist er. Das ist real. Glaubst du es nun?«
Myra starrte auf den Schatten. Die nun Dreizehnjährige
war etwas zu still für ihr Alter. Bisesa hatte Myra mit
dieser Vorführung beruhigen wollen; sie war nämlich
nicht die Einzige, die an der Realität des großen
Projekts im Weltraum zweifelte.
Ihre Reaktion fiel indes anders aus, als Bisesa erwartet
hatte. Sie war erschrocken. Das war ein von Menschenhand
erschaffener Gegenstand, viermal so weit entfernt wie der Mond
und doch von der Erde aus sichtbar. Wie sie hier im
wässrigen Sonnenlicht eines Londoner Morgens stand, war die
kosmische Vision erstaunlich, Ehrfurcht gebietend – und
erschütternd.
Genau aus diesem Grund hatten die alten Griechen das Wort
Hybris geprägt, sagte Bisesa sich.
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PERSPEKTIVEN
Für Liebende war die Schwerelosigkeit viel kniffliger als
die geringe Schwerkraft des Mondes.
Und das trotz jahrzehntelanger Erfahrung, wie Siobhan erfahren
hatte. In den Tagen der Flüge in den niedrigen Erdorbit
hatte es den so genannten
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