Sonnenwende
zu öffnen. Lara führte Tom immer vor Augen, wie lange er und Helen jetzt schon zusammen waren: In der Zwischenzeit hatte Lara drei Partner gehabt, den ersten geheiratet, sich scheiden lassen, sich vom zweiten getrennt, als sie sicher war, von ihm schwanger zu sein, mit dem dritten |50| zusammen eine Eigentumswohnung gekauft, die bis auf weiteres vermietet war, weil sie sich nicht darauf hatten einigen können, wer von ihnen sie behalten sollte, nachdem sie das Geschirr ihrer Beziehung gegen die Wand geschleudert hatten. Nummer vier war im Anmarsch, und zwischendurch gab es auch noch eine Handvoll weniger erwähnenswerter Fälle.
Tom sah Lara gerne als seine Vertraute. Nichts Körperliches, von Erotik keine Spur, Sex ausgeschlossen. Ein zarter Hauch vielleicht, aber wo gab es den nicht? Kein Gedanke jedenfalls, der zu Ende gedacht worden wäre. Natürlich spürte er, wie ihre Brüste ihn berührten, wenn er auf ihrem Behandlungsstuhl saß und sie ihm mit dem Bohrer fiese Insekten durch die Gehirnwindungen trieb, aber es machte ihn nicht an. Einmal nur hatte er während einer Behandlung zärtliche Gefühle für sie entwickelt, das war, als sie ihm ein halbes Dutzend Spritzen geben musste, weil die ersten fünf alle ihr Ziel verfehlten; da wurde er zu einem kleinen Jungen mit Gesichtslähmung. Aber auch das war kein Gefühl körperlichen Begehrens gewesen, sondern eher ein Kannst-du-nicht-meine-Hand-Halten?
Laras Tochter Paula war inzwischen fünf. Mindestens einmal in der Woche nahmen Helen und Tom sie in ihre Obhut. Oft übernachtete sie bei ihnen, dann brachte Tom sie am nächsten Morgen zur Vorschule und war stolz wie ein Gockel. Er sonnte sich in ihrem Einfallsreichtum.
Einmal war von der Spreebrücke aus vor lauter Nebel kaum das Wasser zu sehen, nur mühsam ließ sich die Sonne durch die graue Watte erahnen. Sie standen Hand in Hand, und Paula guckte in den Himmel, als hielte sie Zwiesprache.
Tom: »Was ist los? Können wir weiter?«
Paula nickte nur abwesend und sagte: »Ich dachte es mir.«
»Was dachtest du dir?«
»Es ist gut, wir können weiter.«
|51| »Willst du mir nicht sagen, was du dir gedacht hast?«
»Die Sonne hat Geheimnisse heute, aber es ist nicht schlimm, morgen geht’s ihr wieder besser.«
Wer ihr Vater war, wusste Paula nicht. Wenn Lara ihn Tom gegenüber erwähnte, bezeichnete sie ihn gerne als »arrogan ten Pisser«. Er war Model, eines der bestverdienenden der Republik. Jeder hatte ihn schon einmal gesehen: im Fernsehen, im Kino oder in einer Illustrierten.
Lara: »Ich wollte einfach ein Sperma, das einen gelungenen Nachwuchs gewährleistet.«
»Und da hast du dir ein Arschloch gesucht?«
»Ein intelligentes und ausgesprochen gutaussehendes. Machen wir uns nichts vor: Charakter kann man formen, Aussehen nicht. Henry sieht aus wie in Stein gemeißelt, und ob uns das nun passt oder nicht, wenigstens für eine Frau ist Aussehen mindestens genauso wichtig wie Intelligenz. Schöne Menschen haben es im Leben einfach leichter.«
Was bist du nur für ein Snob, dachte Tom, wusste aber, dass sie recht hatte: Paula war eine Schönheit. Mit ihrem entwaffnenden Lächeln, das sie wie Almosen unter die Erwachsenen streute, zwang sie jeden in die Knie. Wenn sie es schlau anstellte, würde sie ihr ganzes Leben von Menschen umgeben sein, die es für ein Privileg hielten, ihr Puderzucker in ihren süßen Po blasen zu dürfen. Natürlich hatte sie mit ihren fünf Jahren längst erkannt, wie der Hase lief, und setzte ihre Wirkungen gezielt ein. Und so fragte sich Tom manchmal, ob sie nicht vielleicht dazu verdammt war, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und ebenfalls ein arrogantes Arschloch zu werden.
Lara sah das gelassen: »Was willst du? Sie lernt die Mechanismen, die sie im Leben weiterbringen.«
»Was ist mit der menschlichen Seite?«
»Die macht nicht satt.«
Henry hatte von seinem Kind nie erfahren. Lara fand, dass es |52| keinen Grund gab, weshalb sie ihn davon in Kenntnis setzen sollte.
»Wenn es ohne ihn gegangen wäre, hätte ich es ohne ihn gemacht. Du erzählst deinem Füller ja auch nicht, was er für einen hübschen Brief geschrieben hat.«
Im Frühjahr hatte Henry bundesweit für einen Herrenausstatter geworben. Keine fünfhundert Meter hatte man sich in der Stadt frei bewegen können, ohne dass er einem sein smartes Erfolgslächeln in den Nacken geatmet hätte. Das erste dieser Plakate war Tom begegnet, als er mit Lara und Paula im Auto unterwegs war: »Lara, sieh
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