Sonnenwende
sie schwanger werden.
Helen: »Was machst du?«
»Ich gehe meine Tasche packen.«
»Aber ich will nicht, dass du gehst.«
»Du weißt doch gar nicht, was du willst.«
»Geh nicht, bitte!«
Paul öffnete ihm die Tür. Tom stand mit verschmiertem Gesicht auf dem Treppenabsatz, die Tasche neben sich.
Paul: »Vergiss das mit dem Strand. Du siehst aus wie Regen. Regen ohne Strand.«
Dass Helen ein Kind von ihm hatte abtreiben lassen, konnte Tom nicht verwinden. Die Abtreibung selbst warf er ihr nicht vor, nicht mal, dass sie ihm dafür die Schuld gab. Ihre Beziehung lag am Boden und wand sich in den letzten Zügen – keine gute Voraussetzung für ein gemeinsames Kind. Auch, dass sie vorher nicht mit ihm darüber gesprochen hatte, |180| leuchtete ihm ein. Seine Einstellung kannte sie. Es war ihr schwer genug gefallen, da musste sie sich nicht noch mit seinem Kinderwunsch belasten.
Der Grund, weshalb er nicht darüber hinwegkam, war ein anderer: Helen hatte ihm gezeigt, dass er nicht derjenige war, mit dem sie eine Familie gründen wollte. Wenn sie ein Kind gewollt hätte, und wenn sie es von
ihm
gewollt hätte, dann hätte sie es behalten, auch wenn die rosarote Phase ihrer Beziehung vielleicht für immer vorbei war. Wozu also weitermachen? Er wusste, eigentlich wollte sie einen Mann, ein Kind, eine Familie, aber die Aussage hinter der Abtreibung war: Nicht mit dir.
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|181| Desdemona
Tom: »Wie war eigentlich deine Verabredung mit Desdemona? Hat sie dir den Shakespeare gemacht?«
Wladimir: »Sprich bloß nicht
da
von.«
»Weshalb? Was ist passiert?«
»Nix ist passiert.«
»Geht es präziser?«
»Das ist präzise. Nichts ist passiert, gar nichts. Sie ist nicht gekommen.«
»Sie hat dich versetzt?«
»Das ist es, was ich dir zu sagen versuche.«
»Hätte ich nicht gedacht, so, wie sie sich von dir verabschiedet hat.«
»Ich auch nicht, aber so ist das: Sobald du das kleinste bisschen Gefühl investierst, kriegst du in die Fresse.«
Tom wunderte sich über Wladimirs Verletzlichkeit – und setzte gleich noch einen drauf. Heute wollte
er
mal austeilen: »Du hast echte Gefühle?«
»Tja, da staunst du, was?«
»Überhaupt nicht, hab’ ich immer schon vermutet.«
»Na, dann weißt du es ja jetzt.«
»Schäm dich nicht, das ist ganz normal. Geht allen so. Ist einfach nur eine neue Erfahrung für dich.«
»Sehr witzig. Ich schäme mich nicht, ich ärgere mich.«
»Vielleicht solltest du Buddhist werden. Dann könntest du deine Begierden überwinden.«
»Was du heute für einen Mist redest! Die Buddhis gehen mir auf die Nerven. Wer kann denn allen Ernstes seine Begierden |182| überwinden wollen? Lass uns lieber weitermachen, sonst tragen sie noch mal unsere Skelette aus dieser Wohnung.«
Tibatongs Domizil war von Woche zu Woche größer geworden, jede erledigte Arbeit hatte zwei neue nach sich gezogen. Zwischendrin hatte der Professor einen Unfall gehabt und vorübergehend ins Krankenhaus gemusst, so hatte er sich nicht über den Fortgang der Arbeiten auf dem Laufenden halten können. Da hatten Tom und Wladimir etwas Boden gutgemacht, aber längst nicht genug. Wenn Tom morgens die Wohnung betrat und die vor ihm liegende Arbeit abschätzte, kam er sich vor, als würde er mit einem Esel an einem Pferderennen teilnehmen.
Wenigstens bei den Bodenschleifarbeiten war ein Ende abzusehen. In den drei größten Zimmern lag Tafelholzparkett mit Intarsien und Tropenholzfilets, die nach hundert Jahren dünn waren wie gut geschnittener Parma-Schinken. Die große Maschine hätte ihnen das Zeug sofort um die Ohren geschleudert, also war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als die gesamte Fläche mit dem Schwingschleifer abzuziehen, per Hand, auf den Knien. Erst mit vierziger, dann mit achtziger Körnung. Bereits nach dem ersten Tag hatte Tom seine Beine nur gewaltsam wieder geradebiegen können, jeder weitere hatte es noch schlimmer gemacht. Zum Schluss, nach zwei Wochen, hatte er sich erst auf die Seite fallen lassen und eine Weile wie ein Käfer auf den Rücken drehen müssen, bevor er wieder aufstehen konnte.
Inzwischen war neben den hinteren beiden Zimmern nur noch ein mittelgroßes Schlafzimmer mit Fischgrätparkett abzuschleifen, an dem Tom im Moment arbeitete – das heißt, an dem er gearbeitet hätte, wenn es nicht gerade Sturm geklingelt hätte, weshalb er mittendrin aufhören musste.
Wenn jemand sich so vehement mit dem Klingelknopf auseinandersetzte wie derjenige, der gerade vor
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