Sonnenwende
der Tür stand, dann hatte er meistens eine Beschwerde vorzutragen. Oft tat es Tom |183| ja auch leid, aber er konnte das Parkett schlecht mit einem Wattebausch abschleifen. Es hatte sich gezeigt, dass es besser war, wenn
er
in solchen Fällen die Tür öffnete; Wladimir war einfach zu undiplomatisch. In mancherlei Hinsicht waren sie inzwischen wie ein altes Ehepaar: Jedem waren bestimmte Aufgaben zugewachsen, ohne dass sie je darüber gesprochen hätten.
»Unter Ihrer Tür kommt Staub durch.«
Die Hauswartsfrau hatte eine Jogginghose an, die selbst in ihren besten Zeiten abscheulich ausgesehen haben musste und genauso ausgewaschen war wie ihre Dauerwelle nebst Färbung: Rot hatten sie werden sollen, Orange war es gewesen, jetzt war es tote Asche über letzter Glut. Ihre Stimme klang wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten.
Als wäre die letzte Nacht nicht schlimm genug gewesen. Nach einer halben Flasche Grappa hatte sich Tom betäubt auf Pauls Isomatte fallen lassen, war aber bereits nach vier traumlosen Stunden Schlaf mit fürchterlichen Kopfschmerzen und dem deutlichen Gefühl, eine tragische Dimension erreicht zu haben, wieder erwacht. Auf der Suche nach einem einsamen Helden, mit dem er sich in seinem Leid verbrüdern könnte, hatte er Pauls Bücherregale durchkämmt und in einer verschwiegenen Ecke Raymond Chandler getroffen, der ihn verlässlich durch die Nacht begleitet hatte, bis Paul ins Zimmer kam und wortlos eine Aimee-Man-CD einlegte.
Jetzt, im Angesicht dieses Hauswartinfernos, fühlte Tom wieder Chandlers langen Schatten, der ihm wie ein großer Bruder den Rücken stärkte. Tom: »Dust is my business.«
»Was?«
»Staub ist mein Geschäft. Klingt natürlich nur halb so schön.«
»Versteh’ ich nicht.«
Wie auch.
Sie erwartete, dass er etwas sagte. Konnte sie haben.
|184| »Ist nicht meine Tür.«
»Versteh’ ich immer noch nicht.«
»Diese Tür hier« – Tom zeigte mit dem Daumen hinter sich –, »unter der der Staub durchkommt« – er deutete nach unten …
Sie guckte wie eine Eule.
Tom: »… Sie sagten, es sei
meine
Tür.«
Hu-huuu.
Tom: »Trifft nicht zu.«
Sie: »Wissnsewas? Das ist mir zu blöd. Ich geh’ und sag’ meinem Mann Bescheid.«
Während sie die Stufen runtereierte, jagte Tom ihr mit seiner Chandler’schen Zeigefingerpistole von hinten eine Siebenmillimeter durch die Kniescheibe. Musste höllisch weh tun. Als er die Tür schloss, drang Wladimirs Stimme aus einem der vielen Zimmer; er war auf Wanderschaft, weil er nicht wusste, wo er den Beitel zuletzt hingelegt hatte.
»Du hast Beschwerden auch mal freundlicher abgebügelt!«
Seit wann interessierte ihn so etwas?
»Die Zeiten ändern sich!«
Die nächste Unterbrechung ließ nicht lange auf sich warten. Keine Viertelstunde später drückte sich ein ungeduldiger Finger erneut die Kuppe an der Klingel platt. Beim Abschalten der Maschine zog Tom eine Riefe ins Parkett, mitten im Feinschliff mit dem Fünfziger-Papier. Schöner Mist! Fehler, die einem jetzt noch unterliefen, ließen sich nur noch schwer beheben. Unwirsch stapfte er zur Tür.
Der eingestaubte Rotfuchs hatte seinen Mann mitgebracht, die beiden waren ein Traumpaar. Er trug Hosenträger mit vielen kleinen Hertha-Emblemen – wie Briefmarken zum Abreißen. Etwas Verkrustetes klebte an seinem Kinn. Irgendwo in seiner Hose war bestimmt ein Bier versteckt.
|185| »Hörnsema. So jeht det nich, Sie könnhiernich den janzen Tach so laut sein.«
Es war wie bei Tom und Wladimir, jeder hatte seinen Bereich: Sie war für den Staub zuständig, er für den Lärm.
Tom: »Rechte oder linke Tasche?«
»Wat?«
»Nicht so wichtig. Wo waren wir? Ach ja, der Lärm. Wissen Sie, genau genommen bin das nicht ich, der hier so laut ist, sondern die Maschine.«
»Det isma ejahl.«
»Mir eigentlich auch.«
»Wat issnu? Hörnse uff?«
»Neee.«
»Denn müssma die Polizei rufn.«
»Die Nummer ist eins, eins, null«, sagte Tom und schloss die Tür.
Bei ihrem allerersten Auftrag, der Geburt des Tigers, hatte es einen erzürnten Nachbarn gegeben, der tatsächlich die Polizei gerufen hatte. Tom und Wladimir waren einigermaßen nervös gewesen, als plötzlich zwei Beamte in Uniform vor der Tür gestanden hatten. Die hatten dann aber lediglich eine Rechtsbelehrung vorgenommen und dem Nachbarn klargemacht, dass es aussichtslos war, deswegen Anzeige zu erstatten, sich für die Arbeitsunterbrechung entschuldigt und wieder verabschiedet. Seitdem nahmen Tom und
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