Sonst kommt dich der Jäger holen
Herz.
»Sind das Ihre Brüder?«, fragte ich sie.
Die Frau blieb stumm. Ich konnte nicht erkennen, ob sie nun mehr oder weniger Angst hatte als zuvor. Jedenfalls machte sie keinen entspannten Eindruck im Beisein ihrer Familie. Doch als Flipper ihr einen ihrer Schuhe brachte, die sie bei dem groben Handgriff ihres Bruders verloren hatte, entdeckte ich die Andeutung eines Lächelns in ihrem Gesicht – das nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem der Männer aufwies.
»Also das glaube ich nicht«, entfuhr es mir, »dass das Ihre Schwester ist!«
Flipper bellte zur Bekräftigung. Einer der beiden Muskelpakete griff sich langsam an den unteren Rücken, als befürchte er, einen Hexenschuss zu bekommen. Den konnte er gern haben. Von mir persönlich.
»Unsere Schwester hat große Angst vor Hunden. Sie ist einmal gebissen worden. Als Kind«, mischte sich der mit dem roten Hemd ein. »Deshalb ist sie jetzt auch weggelaufen. Vielleicht hat Ihr Hund sie gejagt?«
»Klar. Der frisst auch kleine Kinder.«
»Das hier ist Privatgrund und …«
»Nein, das ist ein öffentlicher Wald.«
»Sicher. Aber da vorne, das ist alles in Privatbesitz.«
Ich wandte mich an die Frau. »Geht es Ihnen gut? Kennen Sie diese Männer? Der Hund hat Ihnen doch nichts getan?«
Eines der Muskelpakete sagte etwas auf – nun war ich mir sicher – Russisch zu ihr. Es klang bedrohlich. Aber Russisch klingt immer schnell bedrohlich, finde ich. Vielleicht tat ich dieser reizenden Familie unrecht? Vielleicht versprach er ihr, dass er ihr jetzt gleich einen Schokoladenpudding kochen würde. Mit gehackten Haselnüssen und Vanillesauce. Ich wollte nicht irgendwelchen Vorurteilen folgen. Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass der Haussegen hier schief hing.
Die Frau starrte zu Boden. Ich machte drei Schritte in ihre Richtung. Ein Muskelpaket wollte mich aufhalten. Der mit dem roten Hemd schüttelte unmerklich den Kopf. Das Paket blieb stehen.
»Hallo?«, fragte ich und berührte die Frau leicht am Arm. »Sind Sie verletzt? Brauchen Sie Hilfe? Sind Sie freiwillig hier?«
Das andere Muskelpaket stieß ein Knurren aus, mit dem es Flipper Konkurrenz machen konnte. Vielleicht war es aber auch ein Wort. Wie gesagt, Russisch, so schön es sein mag, hört sich in meinen Ohren bedrohlich an, vor allem, wenn es aus solchen Resonanzkörpern guttural klingt.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, mischte sich der mit dem roten Hemd ein. »Aber unsere Schwester kann Sie nicht verstehen.«
»Ist sie taub?«
»Nein. Aber sie spricht Ihre Sprache nicht.«
»Die hat es ihr aber nicht zufällig verschlagen ?«
Der Asket lächelte amüsiert. Er konnte tatsächlich lächeln, und es stand ihm gut. Er musste sehr bewandert im Deutschen sein, um meine Anspielung zu verstehen. Ich überlegte, ob er eine deutsche Mutter hatte – mit dieser Frage könnte ich die falsche Schwester entlarven, doch Flipper übernahm die Regie und stupste mit seiner Schnauze gegen die Hand der jungen Frau. Sie reagierte nicht. Ich notierte mir eine Frage an Andrea: War das der Schock? Oder bedeutete es, dass sie keine Angst vor Hunden hatte? Eher vor den Männern?
Da atmete die junge Frau tief durch, warf den Kopf nach hinten und funkelte die Bodyguards an. Sie war eine Schönheit, ohne Frage, und wäre sie nicht so grell geschminkt, noch viel schöner. Die ist bestimmt noch keine zwanzig, ging mir durch den Kopf. Wenn überhaupt schon achtzehn.
Die junge Frau schaute mir in die Augen. Ich hätte gern eine Nachricht empfangen, doch ich las nichts in ihrem türkisen Blick. Kein Danke, kein Hilferuf, gar nichts. Und das war die einzige Ähnlichkeit, die sie mit den Männern verband. Auch ihre Augen waren undurchsichtig wie das Gestrüpp, das uns umgab.
Der mit dem roten Hemd sagte einige Sätze auf Russisch und zog dann noch einmal eine Lächelgrimasse in meine Richtung.
»Auf Wiedersehen. Vielen Dank für Ihre Bemühungen.«
Er ging voraus, dann folgte, eskortiert von den Muskelmännern, die Frau, die High Heels in ihren Händen standen wie Pinguinflügelchen an beiden Seiten ab.
Ich setzte mich auf einen Baumstamm und überlegte. War die Frau freiwillig hier? Wie alt sie wohl sein mochte? War sie im Besitz ihres Passes? Ich traute mir nicht zu, die Lage zu beurteilen. Es war mir egal, was Felix von mir denken würde. Ich wollte, dass dieser Frau geholfen wurde, wenn sie Hilfe benötigte. Ich zückte mein Handy und rief ihn an, nicht auf seinem Handy, sondern in seiner
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