Sophia oder Krieg auf See
die kaum irgendwelche Zivilisation erkennen ließ. Es gab zwar hier und da ausgedehnte Felder. Aber niemand war zu sehen, der die Äcker bewirtschaftete.
Am dritten Tag endlich erreichte er eine größere Stadt am Meer, wo er nicht nur seinen Proviant auffüllen konnte, sondern sich in einem Gasthaus ein mehr oder weniger vernünftiges Bett für eine mehr oder weniger vernünftige Übernachtung gönnte. Mehr oder weniger war in diesem konkreten Fall für Jonathan definitiv weniger, als das bisschen mehr, welches er gebraucht hätte, um ein wenig mehr schlafen zu können. So war das Bett zwar tatsächlich in der Lage einen ausgewachsenen Mann von Gewicht als auch Größe her liegenderweise aufzunehmen und das Zimmer war mit diversen nützlichen Extras ausgestattet, wie einem Waschgefäß und einem fast sauberen Nachttopf.
Auf der Sollseite machte sich jedoch als unangenehm bemerkbar, dass der Wirt das Zimmer offensichtlich an mehrere Personen gleichzeitig vermietet hatte. Dabei zählte nur Jonathan zu jener Spezies Hominiden, die man gemeinhin als Menschen bezeichnet, während die anderen Personen deutlich mehr Beine aufzuweisen hatten. Am weitaus störendsten erwies sich eine Großfamilie Wanzen, die Jonathan offensichtlich mit ihrer jüngsten Tochter zu vermählen gedachte, einer hässlichen, schielenden Bettwanze mit extrem flacher Brust und, so vermutete es zumindest Jonathan, dem Rufnamen Gerlinde. Die ganze Bande behopste, biss und stach Jonathan die ganze Nacht hindurch, ein Fest, auf das Giles Junior gerne verzichtet hätte. Eine geharnischte Beschwerde beim Gastwirt verhallte insofern ergebnislos, als dass der Mann ja konstruktive Vorschläge zur Behandlung der Wanzenstiche äußerte, sich aber auf die für Jonathan nicht akzeptablen Hausmittel Ablecken durch eine schwangere Ziege, Wälzen in frischem Marderkot, Abreiben mit Eigenurin, sowie jeder denkbaren Kombination dieser drei Methoden beschränkte.
Ergänzend darf gesagt werden, dass der Hauswirt die schwangere Ziege mit hängender Zunge bereits im Anschlag gehalten hatte, wobei verstörenderweise nicht nur die Ziege ihr, sondern auch der Gastwirt sein ausgestrecktes Mundorgan präsentierte.
Gleich bei Sonnenaufgang verließ Jonathan die Stadt wieder.
Am Ende des vierten Tages führte ihn der Weg an einem Stein vorbei, auf den man ein großes schwarzes Kreuz gepinselt hatte. Auf einem nahen Holzschild fanden sich die Worte Ordo Domus Sanctae Mariae Theutonicorum Hierosolymitanorum , und Jonathan wusste, dass er die Grenze zum Ordensstaat passiert hatte.
Mit dem fünften Tag wurde es wieder lebendiger auf dem Land. Bauern waren auf den Feldern zu sehen und die Abstände zwischen den kleinen Dörfern wurden zusehends geringer.
Am sechsten Tag sah er schließlich die ersten Ritter. Eine Gruppe von vier Reitern kam ihm entgegen, die Pferde im vollen Galopp, die Reiter gehüllt in weiße Umgänge, die durch einen schwarzen Ledergürtel am Körper gehalten wurden und im Brustbereich ein großes schwarzes Prankenkreuz trugen. Das Prankenkreuz unterschied sich von einem normalen Kreuz durch die verbreiterten vier Enden.
Die Männer nahmen keine Notiz von Jonathan und ritten gruß- und kommentarlos an ihm vorbei.
Am Nachmittag des sechsten Tages sah er endlich sein Ziel. Schon von weitem sichtbar ragte die Marienburg hinter einem Fluss über die vorliegenden Hügel empor. Der Anblick war überwältigend und zu Flammes Verdruss musste Jonathan die Aussicht im Detail kommentieren. »Siehst du das, Flamme?«, jubelte er laut und der Hengst fraß demonstrativ ein paar besonders schöne Blumen vor seinen Hufen. Möglicherweise wollte Flamme mit dieser kleinen Protestnote auch Folgendes ausdrücken: »Entschuldigung, vor uns steht ein gigantisches rotes Schloss, mit mehr Türmen als ich Zecken habe, und du fragst mich, ob ich das sehe? Ich bin nur ein Pferd, mein Junge, aber ich bin nicht blind«.
Jonathan wäre sicher erschrocken gewesen, wenn er gewusst hätte, dass Flamme tatsächlich etwas Ähnliches dachte.
Die Marienburg war wirklich ein Schloss, ein richtiges Schloss und eben nicht nur eine Trutzburg mit dicken Mauern, sondern ein fein und filigran gestaltetes gigantisches Bauwerk mit einer Unzahl an wertvollen Fenstern, gotischen Verzierungen und unterschiedlichsten Teilbauten. Jonathan bestaunte das größte Backsteingebäude der Welt 102 , ein Superlativ, der ihm nicht bekannt war, aber das Nichtwissen minderte sein Hochgefühl in keiner
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