Sophie Scholl
– dieser kleine, treue Gartenzaun Deiner Familie um dich, mein Bruder«, endet am 21. Mai 1940 ihre Kunst-Postkarte mit einem Stilleben von Paula Modersohn-Becker an Hans Scholl. Wenige Tage zuvor musste er als Soldat in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Sie war auch die Einzige für lange Zeit, die im Oktober 1939 Hans Scholl, der seit dem Frühjahr Medizin studierte, in München über ein langes Wochenende besuchte. Wer Verantwortung trug, besaß auch Privilegien.
Ein Jahr zuvor, im Oktober 1938, macht sich Inge Scholl nach einem halben Jahr Haushaltsarbeit in Norddeutschland auf die Rückreise nach Ulm. Sie unterbricht die Fahrt in Köln, wo inzwischen Ernst Reden wieder bei seinen Eltern lebt – Hans Scholls Freund, der 1935 als Rekrut nach Ulm kam und bei den Scholls als anregender, kunstsinniger Gast viele Stunden verbrachte. Eine Korrespondenz entsteht. Ernst Reden, Jahrgang 1914, schickt einen eigenen Gedichtband »Vom jungen Leben« an Inge Scholl »in tiefster Verehrung und Dankbarkeit«. Es entwickelt sich, was Inge Scholl später »eine sehr innige Beziehung« nennt. Aus einem Brief von Ernst Reden vom Februar 1939: »Der Einklang von Verstand, Seele und Körper ergibt erst den wahren Menschen. … Und dabei habe ich solche Sehnsucht nach Dir: nach Deiner Stimme, nach Deinen Händen und nach Dir ganz, du liebe gute Inge.«
Ebenso wie die jüngere Schwester Sophie mit dem Kriegsausbruch am 1. September um Fritz Hartnagel bangt, erfasst Inge Scholl die Angst um den Freund, die sie am 2. September dem Tagebuch anvertraut: »Ich weiß nicht, wo Ernst sich jetzt befindet … Es gibt keine Minute, in der ich nicht an ihn denke … Es ist nun Krieg. Man muss sich langsam an diesen Begriff gewöhnen. Man muss möglichst nüchtern sein. Träume können zu einem grausamen Erwachen führen. Und doch – was wären wir ohne Träume?« Im Vergleich zu Sophie Scholl sieht Inge Scholl die Welt weniger analytisch, haben ihre Gefühle im Widerstreit mit der Vernunft meist die Oberhand. Weitere Tagebuch-Bruchstücke vom 6. September 1939: »Ernst – Heidelberg, halber Tag Köln – Briefe-Briefe – kenne Deine Gedichte wie kein zweiter, dieses Dichfassenwollen.« Der Krieg zerstückelt die Leben, die Gefühle, die Sprache. Was verheißungsvoll begann, hat plötzlich eine ungewisse Zukunft. Es ist eine Erfahrung, die Inge und Sophie Scholl jenseits der geschwisterlichen Gemeinsamkeit verbindet. Ernst Reden, über die Beziehung zu Inge Scholl wieder zurück im Kreis der Scholl-Geschwister, wird auch zum Aicher-Scholl-Bund gehören. Nicht zuletzt, weil Otl Aicher ihn zum innigen Freund erwählt.
Bücher. So kompliziert die Beziehung zwischen Sophie Scholl und Fritz Hartnagel im Winter 1939/40 wurde, Sophie vergaß darüber nicht, Fritz immer aufs Neue zum Lesen anzuhalten und ihn mit Lesestoff zu versorgen. Im November 1939 waren es Gedichte von Eduard Mörike, keine leichte Lektüre: »Aber es ist vielleicht gut, wenn man sich ab und zu die Geduld nimmt, etwas anderes zu lesen … Man muss sich dann zusammennehmen und in eine ganz andere Welt steigen, die einen wahrscheinlich gar nicht interessiert. Ich glaube, man geht nachher doch etwas anders weg davon.« Fritz Hartnagel ist ein dankbarer und sensibler Empfänger der geistigen Kost. Rilke und Manfred Hausmann hat er schon im Gepäck und liest immer wieder darin. Inge Scholl schickt ihm Hesse-Gedichte, Lina Scholl einen Band von Ernst Wiechert. Wenn Sophie Scholl wieder Geld hat, möchte sie ihm »Führung und Geleit« von Hans Carossa kaufen – »wenn Du nur ein bisschen Zeit hast, liest Du es gerne«. Zum vierundzwanzigsten Geburtstag schenkt sie Fritz Hartnagel im Januar 1940 ein Buch, das sie selbst als klärend und erfrischend empfunden hat – den Bestseller »Vorsommer« von Karl Benno von Mechow, erschienen 1933: »Er ist so gründlich und klar durchgeführt. Er ist so beherrscht und sauber.« Klarheit und Beherrschung – das sind die Werte, nach denen Sophie Scholl ihr Leben ausrichtet.
Literatur hat die Kraft, Menschen zu verwandeln und in bedrängten Zeiten zu stärken, davon waren die Scholl-Geschwister überzeugt. Im Juli 1940 schreibt Inge Scholl ihrem Bruder Hans, es sei eine »gewisse Beruhigung und Genugtuung«, dass »Menschen wie Carossa, Jünger und Mechow lebendigen Leibes neben uns stehen«. Die Mehrzahl der zeitgenössischen Schriftsteller, die bei den Geschwistern Scholl hoch im Kurs standen, hatten sich entschieden, im
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