Sophie Scholl
Scholl am Münsterplatz nach und nach Fuß fasste, führte die Freundschaft zu den Scholl-Geschwistern selbstverständlich die beiden alten Freunde mit in den Bund hinein.
Otl Aicher brauchte Menschen, die sich von ihm zu Höchstleistungen antreiben ließen, denen er sein Wissen demonstrieren und die er von seiner Sicht der Welt überzeugen konnte. Er las die vielen Bücher, die er bei Pfarrer Weiß im Pfarrhaus entdeckte, nicht nur für sich selbst – so beeindruckend es war, dass ein Junge in der Pubertät Thomas von Aquin und Augustinus, die Kirchenväter und Nietzsche, Plato und Aristoteles verschlang wie andere seines Alters die Bände von Karl May. Immer auf dem Weg und zugleich überzeugt, die Wahrheit im Gepäck zu haben, fühlte sich Otl Aicher, noch keine zwanzig Jahre alt, gedrängt, diese Wahrheit anderen mitzuteilen. Je finsterer die Zeiten wurden, desto mehr wuchs daraus eine Aufgabe, die missionarischen Eifer nicht ausschloss.
Ende Februar 1939, während eines Erholungsurlaubs, wurde Pfarrer Franz Weiß aus Württemberg ausgewiesen. Am 6. April, Gründonnerstag, kehrte er dennoch ins Söflinger Pfarrhaus zurück, hielt eine Messe. Am nächsten Tag, dem Karfreitag, wartete nach der Predigt schon der Wagen der Gestapo vor dem Pfarrhaus. Drinnen war unter anderem Otl Aicher mit seinem Vater bereit, ihren Pfarrer mit Gewalt zu schützen. Draußen versuchte eine empörte Menge, das Auto an der Abfahrt zu hindern. Franz Weiß begab sich schließlich freiwillig in die Hände der Gestapo, wurde inhaftiert, am 20. Juni 1939 in Ulm von einem Sondergericht wegen »Heimtücke und Kanzelmissbrauch« zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt und sofort ins Ulmer Gefängnis eingewiesen.
Wovon Otl Aicher schon lange überzeugt war, wurde ihm mit diesen Erfahrungen noch einmal zur erlebten Gewissheit: Mit denen, die die Macht hatten in Deutschland, konnte er keine Kompromisse eingehen. Er würde sich weiterhin weigern, in die HJ einzutreten; er würde weiterhin kein Konzert besuchen, das die Nationalsozialistische Kulturgemeinde organisiert hatte, so gut es auch sein mochte. Für Otl Aicher ging es ums Überleben inmitten der braunen Flut. Ein Überleben, das jedoch ohne Freundschaften scheitern würde: »der freund ist der einzige, der einen versteht und trägt, wenn die ganze welt sich von einem abgewendet hat. … um uns nicht aufzugeben, bestehen zu können, dazu brauchten wir freunde und freundinnen.« In diesen jungen Jahren verfestigte sich bei Otl Aicher ein »bild der freundschaft, das weit über dem der liebe stand«.
Ein weiterer Freund, der Otl Aicher besonders verbunden war, hatte sich im Monat vor dem Kriegsausbruch nach Rom aufgemacht, um an der päpstlichen Universität weiter zu studieren. Der sechsundzwanzigjährige Bruno Wüstenberg war im April 1938 als junger Kaplan aus dem Rheinland in die katholischen Pfarreien Ulm-Söflingen und Ulm-Wiblingen gekommen. Mit Otl Aicher, damals sechzehn Jahre alt, teilte er bald seine Freizeit. Der Ältere versorgte den wissbegierigen Jüngeren mit Büchern und Lektüre-Empfehlungen. Sie feierten gemeinsam Weihnachten und fuhren zusammen ins Gebirge. Sie diskutierten oder schwiegen zusammen beim Schein der Kerze, und es gab eine Nacht, »als in einer Kerze zwei Flammen brannten«.
So steht es in einem Brief, den Bruno Wüstenberg im September 1939 an Otl Aicher schreibt und aus dem eine tiefe Sehnsucht spricht. Der Ältere hebt ihre Männer-Freundschaft in religiöse Dimensionen, um sie fest zu verankern: »Ich werde Dich nie fesseln, da der Freund nicht zwingt wie Erde und Ehe – und doch verbindet, tiefer, viel tiefer. Und immer dann, wenn ich ganz eins bin, ganz einsam wie Christus, … dann, Du, bin ich zugleich Dir am nächsten.« Ein weiterer Brief Wüstenbergs aus dem Herbst 1939: »Ich liebe Dich. … Ich liebe Dich nicht wie irgendwen. Und doch gibt es keine Liebe ohne Gefühl. … Warum quälst Du dich so mit Qualen? Warum machst Du mich so voll Angst? Warum bist Du nicht ganz einfach im Leben? … Ich liebe Dich. Und ich möchte es über diese ewige Stadt rufen, hier oben von meinem hohen Fenster in den Norden. Dass Du es doch hörst, denn es gibt nichts größeres als die Liebe. Auch wenn Du sie für schlecht erklärst. … Du solltest nicht immer in letzten Urteilen reden. Du solltest bescheidener sein und auch mehr Ehrfurcht haben vor allen Dingen und besonders den Menschen.« Wenn er Otl Aichers »Kampf gegen das Gefühl« tadelt, trifft sich
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