Sophie Scholl
Bruno Wüstenberg mit Willi Habermanns Erinnerung an den Freund: »Eigenartig sein Verhältnis zu Gefühlen. Voller Gefühl war er gegen die ›Gefühlsmenschen‹.« Das Denken ging Otl Aicher, dem gläubigen Christen, über alles; nur über das Denken konnte es für ihn den Weg zum wahren Glauben geben.
In seiner Autobiografie hat Otl Aicher der Erinnerung an Bruno Wüstenberg keinen Raum gegeben; ausgelöscht, was ihm einst kostbar gewesen sein muss. Auch die engen Freunde Fridolin Kotz und Willi Habermann werden nur mit wenigen Worten bedacht, die ältere Schwester und der jüngere Bruder gar nicht erwähnt. Sie alle passen nicht in den Mythos vom »Einzelgänger«. Tatsächlich ging der Briefwechsel mit Bruno Wüstenberg in den Kriegsjahren weiter, Otl Aicher erzählte dem fernen Freund von seinem Leben. (Bruno Wüstenberg blieb in Rom, arbeitete bis 1966 im Staatssekretariat des Vatikans. Im gleichen Jahr in Köln zum Bischof geweiht, ging er als päpstlicher Nuntius nach Japan, an die Elfenbeinküste, in die Niederlande und starb 1984.)
Wertvoll sind die Briefe Wüstenbergs auch, weil sie das einzige authentische Zeugnis eines Menschen sind, der Otl Aicher in der Gegenwart des Herbstes 1939 schildert, Eigenschaften und Überzeugungen nennt, die für Aicher typisch sind. Bruno Wüstenberg empfindet eine tiefe Zuneigung, ohne sich den kritischen Blick verstellen zu lassen. In diesen Wochen, als der Weggang von Bruno Wüstenberg eine große leere Stelle in seinem Leben hinterlässt und der Krieg ihm schwere Zeiten ankündigt, betritt Otl Aicher erstmals die Wohnung der Scholls am Münsterplatz. Nicht mit großem Hallo, sondern als schweigsamer Gast, »außerordentlich eigenartig und überlegen«, wie Sophie Scholl ihn Ende Oktober 1939 in ihrem Brief an Fritz Hartnagel beschreibt. Ein Prozess der Annäherung beginnt, der auf grundlegende Gemeinsamkeiten aufbauen kann.
Härte. Eigenartig und überlegen, so hätten nicht wenige in den zurückliegenden Jahren Hans, Sophie und Inge Scholl charakterisiert, wenn sie als Führerinnen und Führer ihrer Jungvolk- und Jungmädeltrupps durch Ulm marschierten. Sophie und Hans Scholl trainierten, bis ans Äußerste zu gehen, und trieben ihre Jungen und Mädchen an, Härte zu zeigen gegen sich und andere – nur unter anderen Vorzeichen als Otl Aicher. Robert und Lina Scholl, die Eltern, waren strikte Gegner der Hitlerschen Weltanschauung, wie die Aichers, und Lina Scholl fest in ihrem protestantischen Glauben begründet. Aber außerhalb des Elternhauses gab es kein »protestantisches Milieu«, das den Geschwistern Scholl Argumente gegen den Nationalsozialismus geliefert hätte, im Gegenteil. Die Konfirmanden Hans und Inge Scholl hatten in Stadtpfarrer Oehler eine überzeugende Autorität, die 1933 die neue Zeit begrüßt. In den folgenden Jahren verkündet die evangelische Kirche in Ulm die Zustimmung zu Hitler und seiner Politik laut und hörbar. Einen Pfarrer Weiß gibt es unter den Ulmer Protestanten nicht. Für die Geschwister Scholl bieten die nationalsozialistischen Jugendorganisationen attraktive und überzeugende Orte, Gemeinschaft zu erleben, ihre Ideale praktisch umzusetzen und ihre Fähigkeiten als Führerinnen zu erproben.
Freundschaft. Eine äußere und innere Gemeinschaft, wie sie Otl Aicher mit seinen beiden Freunden verband, hielt auch die Geschwister Scholl zusammen. Und wie Otl der Anführer war, gab es auch bei den Scholls Hierarchien. Im August 1938 schrieb Lina Scholl ihrer ältesten Tochter Inge einen Brief mit »herzlichsten Glück- und Segenswünschen« zum einundzwanzigsten Geburtstag: »Möge im neuen Lebensjahr Gott Dich führen und Deinen Weg mit Blumen der Freude und des wahren Glücks streuen, mögest Du von ihm alles erbitten, was Dir not tut, um als Älteste der Geschwister immer besser das zu werden, was Du jetzt schon bist und das Dich gewiss recht glücklich macht.« Die Älteste und damit Vorbild zu sein, bedeutete Verpflichtung, aus der das wahre Glücklichsein erwuchs. Inge Scholl war penibel, ordentlich und verlässlich, ob es darum ging, die Küche zu putzen – Sophie war meist schneller fertig – oder Wanderungen und Skiferien zu organisieren.
Als die Geschwister nach und nach das Haus verließen, wurde Inge Scholl nicht müde, zu allen mit Briefen, Karten und Päckchen Verbindung zu halten, damit sich das Band, das sie als Geschwisterkreis und Familie umschloss, nicht lockerte. »Vater lässt Dich grüßen und die andern alle
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