Sophie Scholl
roten Fäden in diesem beeindruckenden brieflichen Netzwerk. Die Hinweise auf den christlichen Glauben als Quelle, aus denen sich ihre Kraft speist, sind unüberhörbar. Am 8. Mai 1941 schreibt Hans Scholl »A ma petite soeur!« zum Geburtstag: »Ich möchte Dir wünschen, dass diese Zeit in Deinem Gesichte keine allzu tiefen Spuren hinterlasse. Wir wollen uns daran erinnern, dass es Sphären des menschlichen Geistes gibt, die zeitlos sind und das alles umfassende Netz der modernen Naturwissenschaften ist unser schönstes Arbeitsgebiet. Da sind wir auf Gottes Spuren.« Der Wunsch des Bruders nahm die nächste Zukunft fest und tröstlich in den Blick. Er wusste, dass Sophie Scholl Biologie studieren wollte.
Inge Scholl beschäftigt sich in ihren Briefen besonders ausführlich mit Glaubensfragen und betont zugleich, wie sehr auch sie noch auf dem Weg ist. Ihr »ganzes Verhältnis zu Gott, den Menschen und den Geschehnissen« sei noch im »Werde-Zustand«, schreibt sie Hans Scholl am 9. Juni, »sozusagen mit Gas oder Nebel zu vergleichen, der sich verfestigen will«. Deshalb sei sie sehr vorsichtig, »anderen etwas Unfertiges schwarz auf weiß zu geben«. Um fortzufahren: »Nun aber zur Sache …« Diesmal geht es um den Glauben, den Inge Scholl so definiert: »Glaube ist die Fortsetzung des Verstandes in Richtung zu Gott und den Geheimnissen, die mit ihm verbunden sind.« Da der Verstand Gott nur in beschränktem Maße erkenne, müsse der Glaube die Kluft überwinden, damit der Mensch bei Gott ankommt.
Diesmal ist Inge Scholls Ausgangspunkt ein Sonntagsspaziergang, bei dem sie, ihr Bruder Hans und der Vater »um das Christentum und die Existenz Gottes stritten«. Robert Scholl argumentierte, dass »vom Glauben, also von der Religion her, dem Verstand eine Grenze gesetzt« werde. Noch im Nachhinein zeigt Inge Scholl heftige Emotionen: »Nie, nie kann dies der Fall sein.« Robert Scholl stand dem Christentum und dem Glauben an einen persönlichen Gott fern. Dass wussten nicht nur seine Kinder, sondern Lina Scholl schon aus der Zeit, als sie noch die Diakonisse Lina Müller war. Aber Robert Scholl verfocht keinen aggressiven Atheismus, sondern schätzte philosophisch-theologische Diskussionen. Er stellte nie den Glauben und die praktizierte protestantische Frömmigkeit seiner Frau in Frage und dass die Kinder in diesem Glauben erzogen wurden. Es war ein Glaube, der im Wort Gottes, in der Bibel, fest verankert war und sich im Alltag bewähren musste.
Lina Scholl glaubte fest an Gottes guten Plan. Ende Mai, als noch ungewiss war, welche Außendienst-Stelle Sophie Scholl bekommen würde, wünschte sie ihr, dass sie zu einem Bauern käme. Sie solle für alles Interesse zeigen: »Vielleicht kommst Du ja auch in ein Haus, da ein guter Geist wohnt, wo Du heimisch werden kannst. Es möge Dir alles zum Besten dienen, was ja denen versprochen ist, die Gott lieben.« Es war auch ein Hinweis, fern von Daheim nicht nachzulassen in der Liebe zu Gott. Zugleich lag der Mutter das Schicksal der jungen Männer, namentlich das von Fritz Hartnagel, auf der Seele, die nicht wussten, ob sie als Soldaten aus diesem Krieg je wieder lebend nach Hause kommen würden. War das Gottes Wille, oder hatte er sich längst von der Welt abgewandt? In einem Brief an Werner Scholl vom 13. Juli 1941 bekennt sie: »Wenn ich nicht die Bibel hätte und daraus klar und unzweideutig erfahren könnte, dass Gott wahrhaft noch da ist, und es im Herzen spüre, ich käme nicht durch. Aber so wird trotz allem sein Reich hinausführen und einmal den Frieden schaffen auf Erden.« Eigentlich hätte es der Hervorhebung nicht bedurft, um Werner Scholl auf den Familien-Code aufmerksam zu machen: Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten! Und da Hans Scholl gerade in Ulm ist, setzt er dem Bruder in Frankreich noch einen »herzlichen Händedruck« ans Briefende – »cordiale poignée de mains«.
Als Lina Scholl diesen Brief schrieb, hatte sich das blutige Rad des Krieges, das die Nationalsozialisten im September 1939 in Bewegung setzten, wieder mehrfach gedreht. Gemäß der inneren Logik einer Politik, die auf Eroberung und Raub, Rassenkampf und Vernichtung ausgerichtet war, konnte es keinen Stillstand, keinen Frieden geben. Ende April 1941 hatte Sophie Scholl nach längerer Pause wieder einen Brief von Fritz Hartnagel erhalten – aus Vukovar. Als Anfang des Monats die Wehrmacht in Jugoslawien einmarschierte, war er mit seiner Einheit aus Münster dabei. Wieder ging alles
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