Sophie Scholl
mit Leib und Seele gesund sein willst.« Wenn die Lagerzeit vorbei sei, »dann kann es gar nicht anders sein, als dass Du aufrecht und gerade weiterwächst«. Kalte Duschen und Lesestoff, der den Geist beschäftigt: Nach Inge Scholls Eindruck scheint dieses Rezept bei Sophie Scholl tatsächlich alle Durchhalte-Kräfte mobilisiert zu haben.
Einen Tag nach dem Überfall auf die Sowjetunion schreibt Sophie Scholl an ihren Bruder Hans: »Heute habe ich so das Gefühl, als wäre es Zeit zum Schlussmachen mit dem R. A. D. Was blüht wohl Dir in der nächsten Zeit? Wir leben doch in einer interessanten Zeit. Ab und zu erfahre ich auch, was geschehen ist.« Harmlose Zeilen auf den ersten Blick, vielleicht ein wenig irritierend. Wer den Code kannte und das politische Geschehen aus gleicher Gesinnung heraus betrachtete, erkannte in den Worten eine besondere Botschaft. Sie ist hoffnungsfroh, fast hochmütig und geht davon aus, dass auch Hans überzeugt war: Was nach Triumph aussah, war in Wahrheit der endgültige Schritt zum Untergang. Der Überfall auf die Sowjetunion musste scheitern, so berauschend die anfänglichen Siege auch sein würden. Dieses Scheitern nach außen würde das verbrecherische braune System so schwächen, dass ein entscheidender Stoß im Inneren die nationalsozialistische Herrschaft beenden würde. Nie mehr Arbeitslager, nie mehr Uniformen und verlogene Lieder. Nie mehr den Zwang, jedes Wort abzuwägen. Eine Zukunft in Freiheit war nicht mehr so fern. Wirklich, man lebte in interessanten Zeiten.
Doch wie isoliert und einsam war, wer im Sommer 1941 auf die Hoffnung des Scheiterns setzte, macht ein Blick auf den Mann klar, der im Juli 1944 die tödliche Widerstands-Tat riskierten würde. Im September 1941 wird Claus Schenk Graf von Stauffenberg durch einen Mittelsmann gefragt, ob er mitmachen würde, die Zeit nach dem Sturz der braunen Machthaber vorzubereiten. Stauffenberg lässt Helmuth James Graf Moltke, der auf seinem Gut Kreisau mit Gesinnungsgenossen solche Zukunftspläne diskutiert und die Anfrage gestellt hatte, mitteilen: »Zuerst müssen wir den Krieg gewinnen. Während des Krieges darf man sowas nicht machen, vor allem nicht während eines Krieges gegen die Bolschewisten. Aber dann, wenn wir nach Hause kommen, werden wir mit der braunen Pest aufräumen.« Bei den Scholls in Ulm, angeführt von einem Vater, der den unbedingten Kriegswillen der Nationalsozialisten schon 1933 voraussah und verurteilte, hatte man sich längst an radikalere Gedanken gewöhnt und hing keinem falschen Patriotismus mehr an.
Zurück zu Sophie Scholls locker-tiefgründigem Satz: »Wir leben doch in einer interessanten Zeit.« Ist nicht vorstellbar, wie für Sekunden in Sophie Scholl das Gefühl aufkommt, zu denen zu gehören, die gebraucht werden, wenn der Alptraum vorbei ist? Weil man den Verführungen und Verfehlungen abgeschworen hatte, sich nicht an das Unrecht gewöhnte und – im Rahmen des Möglichen – gerade durchs Leben gegangen war. Sich nicht gemein machte mit den vielen, die nicht nach dem Sinn, sondern nur nach dem Nutzen fragten. Das Gefühl der Überlegenheit, zu den Wenigen und nicht zu den Vielen zu gehören, verband die Scholl-Geschwister – in jener anderen, fernen Zeit, als man in brauner Uniform marschierte ebenso wie heute, in der Kriegs-Gegenwart, wo es keine Gemeinsamkeiten mit den Herrschenden mehr gab, sondern nur Verachtung.
Zum Geburtstag hatte Werner Scholl seiner Schwester Sophie tröstend geschrieben: »Ein berechtigter Stolz, nicht zu sein wie die andern, kann helfen.« Und von Inge Scholl hörte Sophie: »Es hängt eben alles an diesem Salz der Erde, wozu auch wir gehören, Du und ich.« Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt: Die Sätze Jesu gelten seinen Jüngern am Ende der Bergpredigt – Versprechen und Anforderung zugleich. Was für eine Verantwortung und was für ein Anreiz, durchzuhalten. »Jetzt sind es nur noch 67 Tage. Ich freue mich über jeden Tag, der verging. So rückt die Freiheit, die seit Deinem letzten Brief mir noch viel verlockender winkt, doch immer näher, allen Gewalten zum Trotz«, schreibt Sophie Scholl ihrem Bruder Hans Mitte Juli nach München, wo sie nach sechs Monaten Arbeitsdienst im Lager Krauchenwies endlich studieren möchte. Ihre Freundin Erika Reiff, mit der zusammen sie in den dreißiger Jahren in der Ulmer Schule abendliche Zeichenkurse besuchte und die wie ein Mitglied der Scholl-Familie war, sah sich in diesen Tagen in München
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